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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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Straßen lagen leer da. Der Asphalt glänzte von der Nachtfeuchtigkeit, Geschäfte und Wohnungsfenster waren noch dunkel. Ich fuhr auf den Radwegen zu dem Doppelhaus, in dem Pålle wohnte. Auch hier war alles fast gespenstisch still, aber bei Pålle brannte im Küchenfenster Licht. Ich ging leise die Außentreppe hinauf und klopfte vorsichtig, um seine Eltern nicht zu wecken. Fast umgehend wurde die Tür geöffnet.
    Pålle stand da, mehr tot als lebendig. Es hatte keinen Sinn, darüber Scherze zu machen, ich sah, dass er Schmerzen hatte.
    »Du kommst also doch«, brachte er heraus. »Ich habe gewusst, dass du kommen würdest!«
    »War doch verabredet.«
    »Ja, aber du bist wirklich gekommen. Verdammte Scheiße, dass du gekommen bist.«
    Es war zu sehen, wie sehr er sich freute. Er erschien fast erleichtert, als wäre er kurz davor gewesen, aufzugeben.
    »Wo ist der Hund, Pålle?«
    »Welcher Hund?«
    »Na, eurer natürlich. Ich habe heute Nacht im Bunker geschlafen, und da ist mir der Hund eingefallen.«
    »Du hast im Bunker geschlafen?«
    »Ja, ich musste es.«
    »Hast du den Spirituskocher gesehen? Und die Kanister mit Petroleum? Ich habe dir doch gesagt, dass ich alles fertig machen wollte, es gibt da drinnen was zu essen und Wärme für mehrere Monate. Wenn man es sich einteilt, man muss schon sparsam sein. Warte hier!«
    Er verschwand im Haus, ich hörte, wie er irgendwo herumwühlte. Dann kam er zurück, in einem schlabberigen Militärmantel und mit einem vollgepackten Rucksack.
    »Verreist«, sagte er. »Ich meine, der Hund. Meine Eltern sind mit ihm weggefahren.«
    »Aber gestern hast du gesagt, dass sie schlafen?«
    »Du brauchst keine Angst zu haben. Hast du Angst? Hast du Angst vor Hunden?«
    »Der schien ziemlich wild zu sein.«
    »Weißt du, die sind weggefahren. Mit dem Auto. Sind verreist.«
    Er redete merkwürdig, als wäre er außer Atem. Stoßweise und abgehackt, schien seinen Mund nur so wenig wie möglich bewegen zu wollen.
    »Bist du in Ordnung?«, fragte ich.
    »Ja, klar. Das heilt. Es dauert nur eine Weile, aber es heilt.«
    Pålle hinkte zu seinem Fahrrad und schloss es auf. Der Rucksack sah schwer aus, er spannte ihn auf dem Gepäckträger fest. Verzog das Gesicht, als er das Bein über den Rahmen schwang. Sie mussten ihm in den Schenkel getreten haben, Muskeln zertreten haben. Er bemerkte meinen Blick.
    »Jetzt machen wir sie fertig«, sagte er.
    »Wollen wir los?«
    »Na sicher, das weißt du doch.«
    Er versuchte mit den kaputten Lippen zu lächeln und zeigte auf die Beule auf meiner Stirn.
    »Du siehst aus wie ein Verkehrsunfall«, sagte er.
    »Du auch.«
    »Aber wir kriegen das hin. Wenn wir einander helfen, werden sie uns nie vergessen.«
    Er machte eine ausholende Geste nach vorn, mit der ganzen Handfläche. Dann fuhr er los in die Nachtkälte. Ich folgte ihm.
     
    Das Östra Läroverket stand verlassen und stumm da. Der Autoparkplatz war leer, keine Schüler überquerten den Hof, keine Türwächter hielten Ausschau, keine Journalisten fotografierten.
    Pålle gab mir ein Zeichen, das Fahrrad stehen zu lassen, und gemeinsam schlichen wir uns an die Häuserwand. Mit mir im Gefolge lief er die Wand bis zum Chemieflügel entlang. Dort blieb er stehen und öffnete den Rucksack.
    »Hier gehen wir rein«, flüsterte er.
    »Und wie? Willst du eine Scheibe kaputt schlagen?«
    Nach ein wenig Suchen und Metallklappern zog er einen breiten Meißel heraus. Er zeigte auf ein Fenster in gut zwei Metern Höhe.
    »Ich habe die Riegel präpariert. Die sind aufgeschraubt und sitzen lose. Du kletterst auf meinen Rücken und hebelst das Fenster auf.«
    »Das soll ich machen?«
    »Ich selbst schaffe es nicht. Nicht heute.«
    Pålle reichte mir den Meißel. Dann stützte er sich mit den Händen an der Wand ab. Ich packte seine Schultern und zog mich hoch. Er jammerte vor Schmerzen, als ich auf seinen gebogenen Rücken trat und mich schwankend aufrichtete. Keuchend schob ich den Meißel zwischen Fensterrahmen und Fenster und merkte, wie der Widerstand nachließ. Auf leisen Scharnieren glitt das Fenster auf, und die Schulluft strömte mir entgegen.
    Ich sprang hinunter, und Pålle tauchte wieder in seinen Rucksack. Er holte ein Plastikseil mit fertig geknoteten Schlingen heraus, an einem Ende war ein mit Stoff umwickelter Metallhaken befestigt.
    »Militärzeug«, flüsterte er.
    Schnell warf er den Haken in die Fensteröffnung. Irgendwo da drinnen in der Dunkelheit hakte er sich fest. Pålle zog fest am Seil,
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