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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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EIN PAAR RATSCHLÄGE,
BEVOR ICH STERBE
     
    Dinge, die man beachten sollte, wenn man sich verliebt.
    Erstens: Verlieb dich nicht.
    Und wenn man sich trotzdem verliebt? Dann such dir niemals das hübscheste Mädchen der Schule aus.
    Und wenn man sich trotzdem in das hübscheste Mädchen der Schule verliebt? Dann betrachte es als Geisteskrankheit. Versuch, wieder gesund zu werden. Denk nicht mehr an sie.
    Und wenn man trotzdem an sie denkt? Halt bloß deinen Mund. Sag, was du willst. Aber nur nicht das. Lass es sie niemals wissen. Vielleicht hat sie schon etwas geahnt, bei deinem feuchten Dackelblick, aber dabei muss es bleiben. Sie wird sich nie in dich verlieben, nur weil du in sie verliebt bist, so funktioniert das nicht. Du möchtest natürlich glauben, dass ein Wunder passiert. Vielleicht hast du es mal im Film gesehen. In der Schlussszene, nach unzähligen Missverständnissen, schenkt er ihr rote Rosen, und sie schmilzt dahin, fällt ihm willenlos in die Arme. Es besteht eine Chance von vielleicht eins zu tausend, dass so was passiert. Neunhundertneunundneunzig Mal sagt sie Nein, aber vielleicht das letzte, tausendste Mal …
    Fang nie an, über dieses tausendste Mal zu sinnieren. Dass ausgerechnet heute dein absoluter Glückstag ist, der Traumtag, an dem die Sterne perfekt für dich stehen. Sie wird Ja sagen. Sie nimmt die Rosen und …
    Ich kaufe ein Dutzend Rosen und verstecke sie unter meiner Jacke. Ich warte und warte, und zum Schluss kommt sie aus dem ganzen Gewühl heraus. Sabina Stare. Alle anderen sind Schatten, doch um sie herum ist ein Lichtkegel. Und plötzlich bekomme ich Angst, fange an zu zögern, aber dennoch hole ich die Blumen heraus und gehe auf sie zu.
    Und das Publikum merkt, dass da etwas im Busche ist. Die Schatten teilen sich. Alle verstummen, der ganze Schulflur zoomt die Szene heran. Ganz vorn steht sie und strahlt, das ist wie Röntgen, ich werde durchsichtig, ein Loch. Die Haut schält sich von den Händen, als ich ihr die Rosen hinstrecke, das Fleisch schmilzt zu Flocken, die Knochen leuchten kreideweiß, und ich kriege nur heraus:
    »Hier.«
    »Was soll das?«, fragt sie.
    Meine Hand schießt nach vorn, so dass sie gezwungen ist, die Rosen zu nehmen.
    »Weil ich dich liebe.«
    Eine Welle durchläuft den Flur, die Hunderte von Zuschauern, ein ionisiertes Gas. Es ist wie im Film, obwohl es wirklich stattfindet. Und nach einer halben Sekunde wird allen die Komik der Situation klar. Da bricht das Lachen aus. Ein zerstückeltes Lachen von Zähnen, weißen Emailzacken, die alles zerhacken. Sie lässt die Blumen auf den schmutzigen Boden fallen, dreht sich um und geht. Ich bleibe stehen, während die Zähne immer noch kauen und essen, meinen Brustkorb bis auf die Knochen abnagen, bis aufs Herz, und da sterbe ich. Die ganze Schule sieht, wie ich sterbe. Es passiert hier und jetzt, vor aller Augen. Mein sechzehnjähriges Leben ist beendet.
     
    Seit sechzehn Jahren bin ich grau. Ich sage das, als wäre es immer noch so, obwohl es vorbei ist. Ein sinnloses Leben war das, was ich da betrachte, ein Leben, das nicht den geringsten Abdruck hinterlassen hat. Seit ich klein war, habe ich mich immer in der Mitte gehalten. Nie war ich der Beste bei irgendwas, und immer war ich der gleichen Meinung wie alle. Ich habe schwimmen gelernt, als die halbe Klasse schwimmen konnte. Ich fing an, Hiphop zu mögen, als alle anderen Hiphop mochten, und ich hörte auf, es zu mögen, als es nicht mehr in war. Pizza war mein Lieblingsgericht. Blau war meine Lieblingsfarbe. Ich fieberte für denselben Fußballverein wie die anderen, mochte dieselben Filme, dieselben Automarken, die gleiche Kleidung. In der Essensschlange in der Kantine stand ich immer in der Mitte. Ich bin mittelgroß, mittelschwer, mitteltraurig, ich habe mich nie hervorgetan. So war mein Leben, und so hätte ich weiterleben können, eine graue Staubmaus, die von großen Füßen hin und her getreten wird, vollkommen unwichtig für die Welt. Mein Leben ist zu Ende, und ich bin wütend, während ich dies schreibe, der Stift zittert in meiner Hand, ich würde am liebsten losschreien, etwas kaputt machen, zerstören.
    Schließlich hole ich die Blumenreste aus meiner Schultasche, sie sind verwelkt und stinken nach Beerdigung. Ich radle ins Industriegelände und finde eine Kiesgrube, in die ich sie werfe. Dann kippe ich eine Flasche Spiritus darüber, die ich aus dem Putzschrank geklaut habe, ich gieße die Flüssigkeit über die Stiele, ertränke die
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