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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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Ein Engel. Weg von den Häuserschlangen zum Feld auf der Rückseite und dem Gebüsch, zu dem kleinen Bach, der dem Radweg folgte. Die Straßenlaternen verschwanden hinter uns, ebenso das Fernsehlicht und die Autoscheinwerfer. Trotzdem wurde es nicht ganz dunkel, der Widerschein der Stadt folgte uns in den niedrig hängenden Abendwolken. Bald mündete der Bach in einem Tümpel, einem kleinen See, der mit Baggerschaufeln ausgehoben worden war, auf dem im Sommer die Enten schnatterten. Hier stand eine Parkbank, auf der die Alkis im Sommer zu sitzen pflegten, aber jetzt in der Herbstkälte lagen nur leere Flaschen herum. Wir setzten uns. Als hätte der Engel uns hierher geführt. Der Wasserspiegel, dunkle Tinte mit darauf schwimmendem Herbstlaub.
    »Du warst die Einzige in der Schule, die es begriffen hat«, sagte ich.
    »Mm.«
    »Die mir keine Schimpfworte hinterhergerufen hat.«
    Wir saßen Seite an Seite. Vielleicht vierzig Zentimeter zwischen uns. Das Wasser war ganz ruhig, aber das Laub darauf bewegte sich. Drehte sich im Kreis, langsam, ohne Ziel.
    »Ich habe nicht gedacht, dass du mich magst«, sagte sie plötzlich.
    »Wieso das?«
    »Das ist eigentlich immer so. Die Leute stören sich an mir.«
    »Das glaubst du nur.«
    »Ich bin anstrengend. Ich gehorche nicht. Ich sage, was ich meine.«
    »Aber das ist doch gut.«
    »Wirklich?«
    Sie drehte den Kopf und sah mich an. Ich spürte die Wärme, als hätte jemand die Luke in einem Kaminofen geöffnet.
    »Und du?«, fragte sie. »Bist du verrückt?«
    »Was?«
    »Wenn du das bist, dann will ich es wissen.«
    »Wie ist man dann?«
    »Man glaubt, man könnte fliegen. Man wirft sich eine Treppe hinunter.«
    »Ich glaube nicht, dass ich fliegen kann.«
    »Aber warum hast du es dann getan?«
    Mein Mund war ganz trocken. Ich schielte verstohlen zu ihr hinüber. Sie war dort im Dunkel, sie war nicht weggegangen.
    »Um den Arschgeigen zu zeigen, dass ich keine Angst habe«, sagte ich.
    »Ja …«
    »Manchmal muss man das.«
    »Sonst sind sie die Sieger«, sagte sie. »Und man darf sie nie gewinnen lassen.«
    Wir gingen wieder los. Ich hielt mich jetzt etwas dichter neben ihr, so nah, wie ich mich traute. An der Außenseite meines Arms spürte ich eine leichte Wärmeausstrahlung, die von ihrem Körper ausging, die war durch ihre Jacke gezogen, durch die kalte Herbstluft und durch meine Jacke, fast die gesamte Wärme war auf dem Weg verschwunden, aber ein winziges kleines Bisschen gab es noch. Und das genügte, damit mir schwindlig wurde und ich anfing zu zittern. Der Weg machte einen Bogen und traf an anderer Stelle wieder auf das Wohngebiet.
    Wir blieben stehen, vermieden, einander anzusehen. Sie zögerte, sie glaubte sicher, ich sollte jetzt gehen. Sollte ich? Einfach weggehen, wieder einsam sein? Wie machten das die anderen Jungs? Sie redeten in einem fort, ließen das Mundwerk laufen, die Schlagsahne aus dem Maul blubbern, bis alles eine einzige Fettpampe war. Nein, da zog ich doch das Schweigen vor. Es war schwieriger, zog einen nackt aus, aber man bekam Zeit, um nachzudenken.
    »Ich habe mein Fahrrad in deinem Hauseingang stehen«, brachte ich heraus.
    »Okay.«
    Weitere Sekunden vergingen. Ich hätte sie so gern angefasst. Berührt. Ihre Haut gespürt, diese zarte Haut.
    »Das war gut«, sagte ich. »Eure Demonstration.«
    »Findest du?«
    »Na, ihr seid damit doch auch in die Zeitung gekommen.«
    »Es war nicht richtig von der Schulleiterin, Leonardos Gedicht runterzureißen. Man hat das Recht zu schreiben, was man will, schließlich leben wir in einem freien Land.«
    »Hat es dir gefallen?«, murmelte ich.
    »Leonardo ist ein Genie. Er hat schon mehr Gedichte geschrieben, hast du sie an unserem Schwarzen Brett gelesen? Er ist allen anderen überlegen.«
    »Nun ja, ich bin es eigentlich, der …«, setzte ich an.
    »Ja?«
    »Ich tu das auch.«
    »Was tust du?«
    »Schreiben. Gedichte, meine ich.«
    Sie schaute mich verwundert an.
    »Darauf wäre ich nie gekommen.«
    »Ist das so merkwürdig?«
    »Aber du bist doch Naturwissenschaftler. Ich dachte, ihr habt alle einen Taschenrechner im Kopf?«
    Ich sagte nichts darauf. Sie spürte, dass mir das weh tat.
    »Nein, entschuldige … was schreibst du denn so? Du kannst es mich doch mal lesen lassen, ja?«
    »Ich habe sie nicht bei mir.«
    »Ja, klar.«
    »Aber … hm … ich kann sie morgen mitbringen.«
    »Ja, mach das. Dann können wir sie zusammen angucken.«
    Ich weiß nicht, wie wir zu ihrem Hauseingang zurückkamen.
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