Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
Vom Netzwerk:
Ich kriege eine Gänsehaut von denen. Eine Arschgeige kann ich nie werden, dazu ist meine Mutter zu arm, aber ein Idiot zu werden, das wäre einfach. Ich muss nur aufhören zu kämpfen, innerlich zu brennen. Nur tun, was einem gesagt wird und den Häuptlingen immer gefällig sein. Nein, lieber lege ich mich mit Benzin und einem plattgedrückten Rosenstrauch in eine Mulde und verabschiede mich.
    »Warst du in Afrika?«, unterbrach Anselm von der Bank nebenan meine Überlegungen.
    »Was?«, fragte ich verständnislos nach.
    »Na, dein Hemd! Oder was auch immer das ist.«
    Ich starrte ihn verwundert an. Er zeigte auf mich und schüttelte den Kopf. Ich zeigte gleichgültig zurück. Da gab er auf und drehte sich nach vorn. Runlert blätterte in Matrizen in seiner Aktentasche, während er mir nachdenkliche Blicke zuwarf und offenbar etwas Lustiges über mich sagen wollte. Ich starrte intensiv zurück, und das reichte offenbar, dass er seine Meinung änderte. Die Mode der Jugend, hm hm. Vielleicht lieber einfach nichts sagen …
    Der Vormittag verging, und der Sturm nahm an Stärke zu. Sobald die Pause begann, fingen die Arschgeigen an zu stänkern:
    »Warst du in der Mülltonne?«
    »Guck mal, 'n Ufo!«
    »Hat die Klapsmühle heute Ausgang?«
    Ich verzog keine Miene. Tatsache ist: Ich sagte kein Wort. Stattdessen spürte ich etwas zwischen den Zähnen, ein Stückchen Sehne vom Schinkenbrot am Morgen. Ich stocherte gewissenhaft in meinen Zähnen und hielt das Ergebnis zwischen den Fingerspitzen, dass es alle sehen konnten. Eine kleine weiße Haut.
    »Iih, wie eklig!«, riefen einige.
    Sorgfältig legte ich sie dann auf meinen Daumennagel, und mit einem schnellen Schnipsen schoss ich sie in die Luft. Wo sie landete, kann ich nicht sagen.
    »Scheiße, was bist du für eine Sau! Ich habe es in die Haare gekriegt, nimm das sofort weg …«
    Da hielt ich den Daumen hoch. Das Sehnenstückchen klebte noch am Nagel. Ruhig lud ich erneut durch für einen weiteren Schnipsversuch und sah, wie die Arschgeigen in Deckung gingen.
     
    Das Mittagessen wurde noch anstrengender. Zuerst hatte ich überlegt, es einfach zu überspringen, aber das erschien mir zu feige. Die Kantine lag auf der anderen Seite des Schulhofs, sie hatte ihren eigenen Charme. Zuerst latschte man je nach aktueller Wetterlage über den Hof – Schneesturm, prasselnder Regen oder arktische Kälte, ohne Jacke oder andere schützende Bekleidung, da keiner Lust hatte, sie erst aus dem Schrank herauszuholen. Anschließend stand man in einer sich windenden Schlange, die sich teilweise bis zur Außentür erstreckte und noch ein gutes Stück weiter auf den Asphalt. Langsam wie ein Tausendfüßler arbeitete sich die Schlange vorwärts zu Hackklößchen, den zerkochten Kartoffeln und dem aufgetauten Salat aus grünen Erbsen, Mais und Karotten, der immer noch kleine Eisklümpchen zeigte, und dann wanderte man mit dem Tablett in den Händen fünf Minuten herum, bis endlich ein Stuhl frei wurde und man sich auf den arschwarmen Platz werfen und anfangen konnte, den Fraß in sich hineinzuschaufeln.
    Bereits in der Schlange war die Feuerprobe zu bestehen. Ich spürte, wie alle um mich herum einen Schritt von mir Abstand nahmen, so dass ich in einer Luftspalte stand. Sie wollten nicht Gefahr laufen, mich zu berühren. Ich könnte ja eine ansteckende Krankheit haben. Gleichzeitig merkte ich, wie die Leute an den nächststehenden Tischen mich anstarrten. Sie steckten die Köpfe zusammen, ließen Kommentare los, grinsten, zeigten und gestikulierten. Ich hielt sie lieber aus dem Augenwinkel heraus im Blick für den Fall, dass sie zum Angriff übergingen. Den Mündern konnte ich ansehen, wie sie grölten, aber die meisten Kommentare wurden vom Klappern von Hunderten von Tellern und Bestecken verschluckt, so dass ich kaum etwas mitbekam.
    »Schwuchtel!«, drang es trotzdem zu mir.
    »Hirnkranker.« »Tunte.«
     
    Irgendwann in grauer Vorzeit erfand der Mensch die Sprache. Man kann sich fragen, warum. Neunundneunzig Prozent der menschlichen Kommunikation könnten durch Laute ersetzt werden. Ich habe Hunger. Gib das her. Geh zur Seite. Warte. Komm her. Hör zu. Ich bin dran.
    Die Sprache ähnelt manchmal einem Farbkasten, den niemand benutzt. Es gibt so viele Worte, die niemanden interessieren. Ladenschwengel. Wiesel. Freibeuter. Krapp. Usurpator. Obwohl es sie gibt. Sie liegen alle in ihrem hübschen kleinen Fach, stets bereit. Und was passiert? Die Leute entscheiden sich für die graue
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher