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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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leuchtete eine kleine Lampe. Ich hatte überall am Himmel und auf der Erde die Lichter ausgelöscht, aber irgendwo brannte doch noch eins, es gab einen Raum, den ich nicht betreten hatte.
    Wir achten auf das, was abweicht, auf das, was sich unterscheidet. Wenn wir vor einem Kieshaufen stehen, und auf dem liegt eine rote Perle, ein einziger winziger roter Punkt in all dem Grau, dann sehen wir die Perle. Oder nehmen wir ein Orchester mit Hunderten von Geigen, Waldhorn und Klarinetten, und dazu ein quakendes Entenküken. So ein winziger Entennervling, der den Schnabel nicht halten kann, den bemerken wir. Oder das Weltall, das Universum, die größte Leere, die wir kennen, wir nennen sie Unendlichkeit, ein ewiges Dunkel um uns herum. Aber es sind die Sterne, die wir sehen, diese minimalen Lichtpunkte.
    Als ich mich in das allerhinterste Zimmer vorgetastet habe, um die letzte kleine Lampe auszuschalten, da sitzt sie dort. Das Mädchen mit den grünen Augen. Schwarz gekleidet. Sie ist vollkommen anders als Sabina Stare. Sie ist etwas Besonderes, sie sticht hervor, man bekommt Lust, sie kennen zu lernen. Herauszubekommen, aus welchem Holz sie ist.
    »Es hat dir gefallen, was ich gemacht habe«, sage ich.
    »Es hat funktioniert.«
    »Funktioniert?«
    »Ja, du hast sie wachgerüttelt.«
    »Soll man sie wachrütteln? Ist das gut? Macht das einen Unterschied?«
    Sie kommt näher. Streckt die Hand aus, ihre Fingerspitzen. Aber da beginnt das Bild wie eine Wasseroberfläche zu zittern, während das Licht wegdimmt.
    »Warte! Wie heißt du?«
    Sie ruft etwas als Antwort. Aber der Ton ist bereits weg, nur ihre Lippen bewegen sich noch. Dann verschwinden auch sie.
    Was bleibt, ist nur die Finsternis.
     
    Langsam gleitet der Jüngling in den Schlaf. Noch wissen wir nicht, wie er heißt. Die Muskeln zucken und entspannen sich schließlich, das Kinn fällt auf die Brust, so dass der Mund sich einen Spalt weit öffnet. Bald kommen die Träume. Aber der Junge, er weiß nicht, was ihn erwartet. Der erste Traum wird von Kartoffelpüree handeln. Er watet durch Kartoffelpüree, es reicht ihm bis an die Knie. Und unten im Püree verstecken sich die kleinen Schwanzkneifer. Sie springen unerwartet hoch und kneifen mit aller Kraft in den Schwanz, das tut höllisch weh. Es wird ein Albtraum, oh ja, daran ist nichts zu ändern. Es wird eine anstrengende Nacht. Und sie hat gerade erst angefangen. Eine lange, schreckliche Nacht, voller Finsternis und Leiden.

KARPITEL 3
     
    Nach weiteren drei Tagen im Putzkittel war ich 98-mal Schwuler genannt worden, 61-mal Tunte, 37-mal Idiot, Kommunistenschwein elfmal (von derselben Horde, den Oberklassenfuzzies im dritten Jahrgang), Verrückter achtmal, »Hashid« oder vielleicht auch »ashit« zweimal von einem muslimischen Typen aus der Wirtschaftsklasse, keine Ahnung, was das bedeuten soll, Ufo von einer höhnisch grinsenden Mädchenclique, Scheißhippie, Transe, Ekel, Arschloch von verschiedenen Einzelpersonen sowie Rowdy von einer Alten im Bus, die noch hinzufügte:
    »Schneid dir mal die Haare!«
    Und das, obwohl die Haare kaum bis zu den Ohren reichen. Ich nehme an, das ist ein Spruch aus den Siebzigern. Nicht ein einziges Mal habe ich etwas erwidert. Im Gegenteil, ich habe keine Miene verzogen. Absolutes Pokerface, Blick in die Ferne, weit weg von unserer kleinen Welt und ihren albernen Irritationen. Ich fühlte mich geradezu göttlich. Jesus würde sicher genauso empfangen werden, wenn er in seinem Hirtenmantel und seinen Sandalen unter uns auftauchte. Die Leute brauchen nicht viel, um sich abzureagieren. Einmal in der Kantinenschlange kriegte ich Rotz von einem Typen ab, einen snusbraunen Rotzfleck auf dem Kittelärmel. Ich ließ ihn dort sitzen. In der folgenden Stunde wies mich Anselm darauf hin, er dachte, ich hätte es nicht bemerkt. Er hätte fast schon ein Stück Haushaltspapier geholt. Ich hielt ihn freundlich, aber bestimmt zurück. Er war ganz verwirrt, verstand es nicht. Der Rotz verschwand im Busgedränge auf der Heimfahrt, einer der Fahrgäste muss es geschafft haben, ihn sich in seine eigene Kleidung zu reiben. Mir war das vollkommen egal. Und da, genau in diesem Moment, begriff ich, dass ich den Kittel nicht mehr brauchte. Zu Hause hängte ich ihn zurück in den Putzschrank und schloss die Tür. Es war etwas geschehen, nicht wahr?
    Ja, ich war stärker geworden.
    Und falls ich ihn doch wieder brauchte, wusste ich ja, wo er hing.
     
    Diese Schule ist mausetot. Die reinste Grabkammer. Wie
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