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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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Kreide. Immer nur die dicke graue Kreide. Ob man nun froh ist. Oder wütend. Grau, grau, grau. Grobe graue Striche über die ganze Welt, grauer, dreckiger Schlamm.
    »Schwuler.«
    »Ekel.«
    »Tunte.«
    »Schwulerekeltunte.«
    »Schwulerekeltunteschwulerekeltunteschwulerekeltunte …«
    Immer im Kreis herum, immer und immer wieder. Das erscheint so unglaublich langweilig und traurig, schließlich kostet die Sprache nichts, jeder darf sagen, was er will. Ich bekam direkt Lust, ihnen ein wenig zu helfen:
    »Migränesplatter. Putzfrauentaliban. Bilderstürmer. Augenauskratzer. Wandelnde Graffitikotze.«
    Ich brodelte geradezu vor Sprache. Die Worte wanden sich, zischten, schlugen wie Fischschwänze in einer Reuse. Es bildeten sich Regenbogen, wenn ich etwas sagte, Prismen, Flitter, Farbkaskaden. Man musste nur einfach drauf los malen.
    Nachdem ich fertig gegessen hatte, blieb ich noch eine ganze Weile sitzen, nur um zu zeigen, dass ich mich nicht um die Gaffer kümmerte. Schließlich hatte ich auf genauso viel Platz Anrecht wie sie. Und ich hatte das Recht, mich so anzuziehen, wie ich wollte. Eine gekochte Kartoffel kam angeflogen und klatschte direkt vor mir auf den Tisch. Weiche Teilchen bespritzten mich. Ich stand ruhig auf, bürstete mich ab, ohne loszubrüllen, es mit Gleichem zu vergelten oder ihnen das Tablett wie eine Frisbeescheibe in ihre fetten Fratzen zu donnern.
    Als ich zum Ausgang ging, hörte ich auch etwas Unerwartetes:
    »Derb.«
    Ich drehte mich um, es war ein Mädchen. Stark geschminkte Augen, die funkelten. Sie war ziemlich klein, hatte spaghettiglatte Haare, die schwarz wie Tinte gefärbt waren, sie trug einen schwarzen Wollpullover, schwarze Hosen, schwarze, schwere Stiefel. Aber ihre Augen waren grün wie die einer Katze.
    »Äh?«, murmelte ich.
    »Du hast sie aufgeweckt«, sagte sie. »Es klappt.«
    Dann drehte sie sich um und ging. Als wollte sie nicht aufdringlich wirken. Ich folgte ihr über den Schulhof und sah, wie sie im K-Trakt verschwand. Eine der Künstler, hätte ich mir doch denken können. Eine von diesen Weichköppen, wie sie von uns im Naturzweig genannt wurden. Fixer oder Müllsäcke waren andere Bezeichnungen. Sie hatte ein wenig blass ausgesehen, dachte ich. Irgendwie zu dünn. Wahrscheinlich so eine Veganerin, hörte bestimmt Vampirmusik und hatte schwarze Kerzen in ihrem Zimmer. Mein Blick hing ihr noch lange nach, und erst da fiel mir ein, dass ich mich hätte bedanken sollen. Sie war die Einzige, die was kapiert hatte. Die nicht mit den Wölfen geheult hatte.
     
    Nach der letzten Stunde stand ich an meinem Spind und packte den Rucksack. In vielerlei Hinsicht fühlte ich mich zerschlagen. Ich hatte noch nie zuvor an einem einzigen Tag so viel Mist abbekommen. Trotzdem war ich nicht am Boden zerstört. Schließlich hatten sie mich bemerkt. Eine Null zu sein, von allen übersehen zu werden, das war der Tod. Und diese Periode hatte ich hinter mir gelassen. Lieber sollten sie mich hassen. Statt einer Null wollte ich ein Minus werden, eine schwarze, spitze Minusnadel, die sie in ihre fetten Ärsche pikste. So wollte ich leben. Lieber das, als unsichtbar zu scheinen, ein Niemand zu sein, im Leben wie dünne Luft herumzulaufen.
    »Du …«
    Ich war auf dem Weg zur Bushaltestelle, als mir jemand einen Zettel hinstreckte.
    »Der Link. Zu der Vinylseite.«
    Es war Pålle. Ich stopfte den Zettel in die Kitteltasche.
    »Ach ja, ja, genau.«
    »Ist das ein Projekt, was du gerade machst?«, fuhr er fort.
    »Ein Projekt?«
    »Na, deine Kleidung. Habe ich heute Morgen schon bemerkt.«
    »Ach so, das.«
    »Aber ich wollte nichts sagen.«
    »Ja.«
    »Ich hab mir jedoch gedacht, dass du vielleicht gerade ein Projekt machst. Stimmt das?«
    »Kann sein«, sagte ich.
    »Na, wahrscheinlich willst du nichts drüber sagen. Das ist ja meistens so. Einiges behält man besser für sich.«
    Seine Nase glänzte, als wäre sie mit Butter eingeschmiert. Das Haar lag platt und fettig auf dem Schädel und roch nach Eisen. Antirostmittel. Ich wollte ihn möglichst schnell loswerden.
    »Man vertraut ja nicht jedem«, lief seine Litanei weiter. »Man muss die Monolithen finden. Kennst du Monolithen? Stell dir einen Vulkan vor, einen feuerspeienden Berg, der riesige Mengen von Lava ausspuckt. Darüber vergehen Millionen von Jahren, und der Lavaberg fängt an zu verwittern. Alles Poröse, was gesprungen ist rundherum, ist zerfallen, und zum Schluss bleibt nur noch der Vulkankern. Der Magmapfeiler selbst da
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