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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman
Autoren: Silvia Bovenschen
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Da sitzen sie, sagen wir in Malibu, sagen wir auf einer Terrasse, vielleicht können sie das Meer sehen, möglicherweise den gleichmäßigen (ewigen?) Wellenschlag hören und den Schrei der Möwen.
    Jedenfalls sind sie, das ist sicher, verliebt. In dem Stadium des reinen Entzückens, in dem jegliches interessant ist, was die geliebte Person berührt.
    Das ist ein attraktives junges Paar, Jean und Mary, ein Drehbuchautor und eine Journalistin, in den besten mittleren Jahren, gegenwartserprobt und gutgelaunt der Zukunft zugewandt. Sie haben die ersten Turbulenzen ihrer Liebe schon hinter sich und zum Rausch ist ein Vertrauen gekommen.
    Ja, so wollen wir sie sehen.
    Mary ist schwanger. Im dritten Monat. Ein kleines Mädchen wird erwartet. Zu Marys Füßen liegt ein großer Hund. Er schläft. Seine Schnauze ruht auf ihrem linken Schuh.
    »Erzähl mal«, sagt Mary jetzt, »was war denn da los in Deutschland, in der Villa deiner Großtante?«
    Sie sagt es mit einer zärtlichen Ungeduld, die Jean gefällt.
    »Ach, ich weiß doch selber nichts Genaues, nur das, was mir die Haushälterin und dieser Flocke berichtet haben. Aber die hatten, als ich sie vor Ort befragte, nur Mutmaßungen zum tatsächlichen Hergang. Dörte, meine Cousine zweiten Grades, die zu dieser Zeit bei den alten Frauen wohnte, brachte kein vernünftiges Wort heraus. Die war völlig außer sich. Hat nur wirres Zeug geredet. Die Alte – gemeint war meine Großtante Charlotte – hätte sie förmlich aus dem Haus getrieben.
    Kurzum: Es gibt keine brauchbaren Informationen. Auch die Artikel der Sensationsreporter, die sich natürlich auf den grausigen Fund in der Villa stürzten, boten nichts als Spekulationen.«
    »Dann erzähl eben, wie es gewesen sein könnte. Füll die Lücken. Mach, was du so gut kannst. Mach einen Film daraus. Was ist denn das überhaupt für eine verrückte Geschichte?«
    »Eine verrückte Geschichte von verrückten alten Frauen, so würde man das in einem Trailer ankündigen, aber verrückt waren sie wahrscheinlich gar nicht, nur etwas verdreht, und ich weiß auch nicht, ob es wirklich eine Geschichte ist, eher eine Zuspitzung, ja, eine seltsame Zuspitzung, so will ich es sehen. Oder besser noch: eine Folge von Seltsamkeiten an einem einzigen Tag, an einem einzigen Ort. Wie ein absurdes Bühnenstück.
    Ich glaube, du musst dir, um das Geschehen zu verstehen, ein Bild von meiner Großtante machen. Eine hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, wie man sich in meiner Familie erzählte. Aus reichem Hause kommend, hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt. Sie bewohnte eine große weiße Villa an einem Fluss gelegen. In den letzten Jahren hatte sie drei Freundinnen zu sich geholt, die – wie ich hörte – ein bequemes Leben dort hatten und …«
    »Das ist langweilig. Kannst du langsam mal zur Sache kommen?«
    »Okay. Alles begann mit einem Ruf.«

I
    In der weißen Villa (10 Uhr 03, noch 8 Stunden)
    »Unerhört«, rief Johanna, und nochmals: »Unerhört.«
    Ihre scharfe Stimme drang in alle Winkel und Fugen der Villa.
    (In fünf Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Mädchenzimmer, ein Speisezimmer, in einen großen Salon, eine Bibliothek, ein imposantes Entree, eine Diele, in drei Bäder, eine Besuchertoilette, eine große Küche, eine Speisekammer, über zwei Treppen hinauf und herunter und in einen Abstellraum.)
    Sogar auf der besonnten Uferpromenade war das »Unerhört« zu vernehmen. Einige Spaziergänger schauten alarmiert hoch zu den geöffneten Fenstern im ersten Stock.
    Ein älteres Ehepaar beschleunigte den Schritt.
    »Unerhört« und nochmals »Unerhört«.
    Und abermals durchfuhr der Doppelklang die Villa.
    Man hätte meinen können, dass die vielen dünnbeinigen Tischchen und die Schar der filigranen Figürchen und Väschen bersten müssten unter dem Druck der Schallwellen, die den scharfen Ton zweimalig enggestaffelt vor sich hertrieben.
    Erstaunlicherweise nahm keine der anwesenden Bewohnerinnen des Hauses Notiz von dem schneidenden Ruf.
    Aber das musste nicht erstaunen, denn die seit Jahren weitgehend bettlägrige Johanna schickte diesen Ruf, der zuweilen wie ein Fluch klang, häufig in die Räume, an manchen Tagen rief sie zehnfach.
    Sie rief, wenn sie etwas empörte, etwas, das sie las, etwas, auf das sie im Fernsehen oder im Internet stieß, und sie rief sogar, wenn sie an etwas Unerfreuliches dachte.
    Die zweiundachtzigjährige
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