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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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Mechanisch stapfte ich weiter durch die Flure, als hätte mich jemand aufgezogen, vorbei an morgenmüden Klassen, die darauf warteten, dass der Lehrer kam.
    »Guck mal … verdammte Scheiße … hehe … eine Transe … haste deinen Pyjama noch an …?«
    Schließlich erreichte ich den Physikraum. Runlert hatte soeben aufgeschlossen, und ich ging mit dem Schülerstrom hinein. Ließ mich ganz hinten auf einen Stuhl fallen und holte meine Bücher heraus. Ruhig und gelassen, nur nichts übertreiben. Thermodynamik. Kapitel vier.
     
    Ich musste der Wahrheit über meine Klassenkameraden in die Augen sehen. Ich musste mein neues Leben ohne Scheuklappen leben, es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.
    Meine Gymnasialklasse besteht zur Hälfte aus Arschgeigen, der Rest sind Idioten. Die Arschgeigen wollen Rechtsanwälte oder Ärzte werden, um Massen an Geld zu verdienen und etwas Schickes auf die Visitenkarte drucken zu können, nicht, um ihren Mitmenschen zu helfen. Sie werden gepuscht von ihren Daddys und Mamis, die locken und drängen, ermuntern und schmieren, damit es ihrer Nachkommenschaft gelingt, den Führerkranz zu übernehmen und als Erste von der Tafel zu nehmen, während die Reste für uns andere übrig bleiben. Die Arschgeigen haben alles, die Arschgeigen stehen nie Schlange, den Arschgeigen wird vorgekauter Kuchen ins Maul geschoben, um sie herum liegen Matratzen für den Fall, dass sie stolpern könnten. Einer Arschgeige kann es nie schlecht gehen im Leben. Was für Versager sie auch sind, es gibt immer jemanden, der hinter ihnen aufräumt. Wenn sie es nicht zum Jurastudium schaffen, weil sie zu blöd oder zu faul sind, dann blechen die alten Herrschaften für eine Ausbildung im Ausland hunderttausend Dollar, und schwups hat man das Papier, das man braucht. Und dann geht es geradewegs in Papas schicke Firma, da besteht kein Risiko, arbeitslos zu werden oder Stipendienschulden abzahlen zu müssen. Ist man reich, so wird man noch reicher, so lautet die Regel im Gesellschaftssystem der Arschgeigen, das sie selbst aufgebaut haben, also kein Wunder, dass es ihnen gut passt.
    Die andere Hälfte, das sind die Idioten. Die Idioten sind merkwürdigerweise schlauer als die Arschgeigen. Aber die Idioten wissen, dass die Regeln gegen sie sprechen, dass die Arschgeigen gewinnen werden, egal wie sehr alle anderen auch pauken mögen, dass Idioten im besten Falle immer nur auf Platz zwei gelangen. Aber das finden sie ganz okay. Lieber der Zweite sein als gar nichts, das ist ihre Einstellung zum Leben, und deshalb sind sie Idioten.
    Oft wollen sie was im Computerbereich machen, weil sie hoffen, dass die IT-Branche gerechter ist als andere, dass es dort nur darum geht, zu programmieren, zu beraten und schicke Homepages für Großkonzerne zu basteln, und dass derjenige, der am logischsten denken kann, den Job auch kriegt. Oder sie wollen Forscher werden in irgendeinem verstaubten Bereich der Universität, mit eigenem kuscheligen Labor, wo sie mit ihren Reagenzgläsern jonglieren und darauf warten können, bis alle, die älter sind als sie, gestorben sind, um dann selbst Professor zu werden. In den Mittagspausen bequatschen die Idioten Synnöve in der Schulbibliothek, merkwürdige ausländische Fachzeitschriften über Astrophysik oder Biomedizin zu abonnieren, worauf sie nur erwidert, dass die Schulbibliothek sich nur Teknikens Värld leisten kann. Die Idioten sind oft genauso arm wie ich, deshalb werden sie nicht so gehasst wie die Arschgeigen. Teilweise tragen sie verwaschene Kleidung, zerfetzte Jeans und billige Synthetikrucksäcke. Sobald sie eine Chance haben, suchen sie im Internet nach einem neuen Molekül, das ein Japaner entdeckt hat, oder ob es den Yankees gelungen ist, den Computerfehler bei der letzten Marslandung zu korrigieren. Es sind Nerds, und in guter alter Nerdmanier finden sie immer andere Nerds mit exakt den gleichen Interessen wie sie selbst, und dann hocken sie mit beschlagenen Brillen auf dem Flurboden und reden über Verschlüsselungsmethoden im Netz. Verdammt, sehen die süß aus, direkt zum Verlieben.
    Ein Idiot zu sein, das heißt, sich zu ducken, den Lehrern nach dem Mund zu reden, während das Gesicht nur so von Fett glänzt, oder ein kicherndes, hysterisches Idiotenlachen vom Stapel zu lassen, sobald einer der Arschgeigen einen Witz erzählt. Die Idioten wollen es immer allen recht machen, so stellen sie sich ihr Leben vor, kleine, folgsame Haustierchen, die loslaufen, sobald man einen Stock wirft.
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