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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei
Autoren: Martin Clauß
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    Mort Tayben versuchte die Augen zu öffnen.
    Es gelang ihm beim linken, aber das rechte weigerte sich. Für einen Moment dachte er, es sei verklebt – das war ihm letztes Jahr bei dieser scheußlichen Bindehautentzündung passiert –, dann aber spürte er, dass ihm schlicht die Kraft fehlte, das Lid zu heben. Als wären die Muskeln in dieser Ecke seines Körpers erschlafft.
    Oder schlimmer: Als hätte er kein rechtes Auge mehr …
    Licht flackerte, aber das war normal. Auf seinem Nachttisch brannte eine Kerze wie jede Nacht, denn ohne das Kerzenlicht hatte er sein Leben lang nie einschlafen können. Das hatte seine selige Mutter verbockt, als sie ihm dieses Einschlafritual beibrachte. Gehirnwäsche nannte man so was. „Das flackernde Licht beruhigt“, hörte er sie noch sagen, mit jener übertrieben hohen Stimme, die in jener Zeit bei den Frauen in Mode gewesen war. „Das hat schon dein Grandad so gemacht. Damit kannst du jederzeit und überall schlafen. Es ist Magie.“
    Was stimmte. Immer vorausgesetzt, man hatte die Zauberutensilien zur Hand, eine Kerze und Zündhölzer.
    Vermutlich war Mom einfach zu faul gewesen, ihm Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen. Zu seiner Bettgehzeit liefen in dem hohen, wuchtigen Röhrenradio, das ihre Wohnstube dominierte, spannende Hörspiele, die sie nicht verpassen durfte. Tombstone Radios nannte man diese Radiomodelle. Sie waren wunderschön und einschüchternd. Grabsteine eben.
    Mort versuchte sich zur Seite zu drehen, der Kerze zu. Warum zum Teufel fiel ihm das so lächerlich schwer? Es schien fast, als wäre jemand an ihn gefesselt, so groß und massig war wie er selbst.
    Das Licht an der Decke flackerte nicht nur, es drehte sich auch. Er drehte sich. Das Bett gehörte zu diesen elektrischen Bullen, die alles daransetzen, ihren Reiter abwerfen.
    Jetzt erst fiel ihm auf, dass er Kopfschmerzen hatte. Sie begannen an einer Stelle an seinem Hinterkopf, dicht unter dem Schädelknochen, strahlten langsam in jeden Winkel seines verfluchten Gehirns und setzten sich dort fest. Sie waren nicht mörderisch, aber sie schienen Ambitionen zu haben, es bald zu werden, wenn man sie ließ. Und sie gehörten kein bisschen in seinen Kopf hinein. Sicher waren es die Schmerzen gewesen, die ihn geweckt hatten.
    Mort, old boy, da ist aber etwas gar nicht in Ordnung mit dir.
    Beim fünften oder sechsten Versuch gelang es ihm, auf der linken Seite liegen zu bleiben. Mit seinem einen Auge, dem einzigen, das sich öffnen ließ, starrte er die Kerze an. Sie war zur Hälfte heruntergebrannt, so viel konnte er erkennen, obwohl sie wackelte und auf und ab hüpfte.
    Also mussten es schon die frühen Morgenstunden sein. Vier Uhr vielleicht, oder fünf.
    Das Risiko für einen Schlaganfall ist in den frühen Morgenstunden am größten , fiel ihm ein. Und er wusste sofort, dass es das sein musste: Ein Schlaganfall. Einen hatte er schon hinter sicher, vor etwas über einem Jahr war das gewesen. Damals hatte er beim Frühstück doppelt gesehen. Zwei Bagels, zwei Tassen Bohnenkaffee, zweimal die Great Bend Tribune, aufgeschlagen bei den Ergebnissen der Western Kansas Football League. Über den Tabellen konnte er ewig sitzen. An diesem Tag besonders, denn die Kolumnen überlagerten sich und waren einfach nicht zu entziffern. Seine Tochter, seine übervorsichtige, überängstliche Tochter Elaine, die es plötzlich auch zweimal gab, hatte auf der Stelle den Notarzt verständigt. Er hatte ihr Bild jetzt noch vor sich, wie sie schräg vor ihm standen, die beiden Hörer in der Hand, ihn beobachtend und beschreibend. Elaine wollte gesehen haben, dass sein Mundwinkel herabhing, aber er mochte das nicht. Mochte nicht, dass er herabhing, und falls er das doch tat, dann wollte er nicht, dass Elaine wildfremden Menschen darüber berichtete. Zuerst hatte Mort nach Kräften protestiert, auch dann noch, als der Arzt und die beiden Sanis auf ihn einredeten. Kurz bevor sie wieder wegfuhren, hatte er dann plötzlich nachgegeben. So war er. Sobald er spürte, dass er gewonnen hatte, war er zu Verhandlungen bereit.
    Und er dankte Gott für diesen Charakterzug.
    Der Schlaganfall war ohne Nachwirkungen geblieben. Die Sachen, die man ihm gespritzt hatte, hatten den Pfropfen in seinem Gehirn weggeblasen.
    Aber jetzt war es schlimmer.
    Mit einer Nüchternheit, die ihn selbst verblüffte, analysierte er seine Situation. Er befand sich allein im Zimmer, allein im ganzen Stockwerk. Seine Tochter wohnte über ihm, aber nicht genau über
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