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Im Dreieck des Drachen

Im Dreieck des Drachen

Titel: Im Dreieck des Drachen
Autoren: James Rollins
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I
    VORHER
    8.14 Uhr, Pacific Standard Time
San Francisco, Kalifornien
    AM TAG DER Sonnenfinsternis verließ Doreen McCloud eilig das Starbucks. Sie hatte um zehn Uhr einen Termin auf der anderen Seite der Stadt, und für die U-Bahn-Fahrt zu ihrem Büro nahe am Embarcadero blieb ihr weniger als eine Stunde. Sie zitterte in der morgendlichen Kühle und umklammerte ihren Becher Mocha, als sie zügig zur U-Bahn-Station an der Kreuzung Market and Castro hinüberging.
    Stirnrunzelnd schaute sie zum Himmel auf. Noch musste die Sonne, im Augenblick lediglich eine blasse Scheibe, die dichte Nebeldecke auflösen. Die Sonnenfinsternis war für kurz nach vier Uhr am heutigen Nachmittag angesagt – die erste des neuen Jahrtausends. Es wäre zu schade, würde der Nebel die Sicht verwehren. Die Medien hatten ein regelrechtes Trommelfeuer veranstaltet, und so wusste auch sie, dass die ganze Stadt sich bereithielt, das Ereignis zu feiern. Eine so günstige Gelegenheit konnte San Francisco unmöglich ohne das übliche Tamtam verstreichen lassen.
    Doreen schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! In San Francisco herrschte sowieso immer der verdammte Nebel, da rechtfertigten ein paar düstere Augenblicke mehr kaum die ganze Hektik. Zudem war es nicht mal eine totale Sonnenfinsternis!
    Seufzend schob sie diese flüchtigen Gedanken beiseite und zog sich ihr Tuch fester um den Hals. Sie hatte wahrhaftig andere Sorgen. Wenn sie diese Sache mit der Delta Bank unter Dach und Fach brachte, war ihr eine Partnerschaft in der Kanzlei sicher. Dieser Gedanke munterte sie auf, während sie die Market Street in Richtung U-Bahn-Station überquerte.
    Als sie dort ankam, fuhr gerade der nächste Zug ein. Mit zittrigen Fingern steckte sie ihre Karte in den Entwerter, eilte die Treppe zum Bahnsteig hinab und wartete darauf, dass die Bahn stehen blieb. Erleichtert, dass sie den Termin locker schaffen würde, hob sie den Becher an den Mund.
    Ein Stoß gegen den Ellbogen riss ihn ihr von den Lippen. Er flog ihr aus den Händen, und heißer brauner Kaffee spritzte heraus. Nach Luft schnappend fuhr sie herum.
    Eine ältere Frau in schlecht zueinander passenden Lumpen und löcheriger Decke starrte sie von unten her an, ihre Augen wirkten irgendwie abwesend. Doreen musste plötzlich an ihre Mutter denken, wie sie im Bett gelegen hatte: der Gestank nach Urin und Medikamenten, die eingefallenen Züge, dazu der gleiche leere Blick. Alzheimer.
    Sie wich zurück und klemmte ihre Handtasche unter den Arm. Aber die Obdachlose stellte anscheinend keine unmittelbare Bedrohung dar. Doreen erwartete die übliche Frage nach etwas Kleingeld.
    Stattdessen starrte die Frau sie weiterhin mit diesen leeren Augen an.
    Doreen wich noch einen Schritt zurück. In ihren Ärger und ihre Furcht mischte sich ein Gefühl des Mitleids. Die anderen Pendler wandten sich langsam ab. Typisch Großstadt. Nur nicht zu genau hinsehen . Sie versuchte, es ihnen nachzutun, doch es gelang ihr nicht. Vielleicht war’s die Erinnerung an ihre Mutter, die längst im Grab lag, oder eine Art Mitgefühl. »Kann ich Ihnen helfen?«, hörte sie sich fragen.
    Als die alte Frau sich rührte, entdeckte Doreen inmitten der Lumpen einen halb verhungerten Terrierwelpen. Das spindeldürre Geschöpf drückte sich dicht an die Füße seines Frauchens.
    Die Obdachlose bemerkte ihren Blick. »Brownie weiß Bescheid«, sagte sie mit heiserer, vom Alter und vom Leben auf der Straße rau gewordener Stimme. »Er weiß Bescheid, ja, ja.«
    Doreen nickte scheinbar verständnisvoll. Man sollte Verrückte am besten nicht provozieren, das hatte sie bei ihrer Mutter gelernt. »Ganz bestimmt.«
    »Er sagt mir Dinge, weißt du.«
    Erneut nickte sie, kam sich allerdings dabei auf einmal albern vor. Hinter ihr öffneten sich zischend die Türen des Zugs. Wenn sie ihn nicht verpassen wollte, musste sie sich beeilen.
    Sie wollte sich schon abwenden, als ein welker Arm unter der löcherigen Decke hervorgeschossen kam; knochige Finger umklammerten ihr Handgelenk. Instinktiv riss Doreen ihren Arm weg. Zu ihrer Überraschung hielt die alte Frau sie weiterhin fest und schlurfte noch näher heran. »Brownie ist ein guter Hund«, sagte sie sabbernd. »Er weiß Bescheid. Er ist ein guter Hund.«
    Doreen riss sich von der Frau los. »Ich … ich muss los.« Die Alte wehrte sich nicht. Ihr Arm verschwand in ihrer Decke.
    Doreen wich in die offene Tür des Zugs zurück, den Blick nach wie vor auf die alte Frau geheftet, die sich jetzt
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