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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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fragte Jensen.
    »Nicht wegen den Wellen. Wegen den Steinen. Sehen Sie? Diese Brocken da. Wenn Sie so einen an den Kopf kriegen, ist Feierabend.«
    Jetzt sah Jensen, dass einige faustgroße Steine auf der Straße lagen.
    »Die Wellen werfen die Steine an Land«, sagte der Polizist. Er warf einen misstrauischen Blick aufs Meer. »Mich hat mal einer an der Brust erwischt. Hat mir zwei Rippen gebrochen. Gehen Sie mal lieber wieder ins Hotel. Der Sturm soll noch schlimmer werden. Windstärke 9. Könnten sogar noch eine 10 kriegen.«
    Und so ließ Jensen sich treiben. Zuerst vom Sturm ans Meer, dann von einem Polizisten zurück ins Hotel. Davids Jacke hing noch über dem Stuhl hinter der Rezeption, die Kerze war erloschen, die Bar nebenan lag ruhig und dunkel. Das Knarren der Treppenstufen begleitete Jensen in sein Zimmer.
    Er zog die durchnässten Kleider aus, hängte sie über den Heizkörper, der kalt war. Er drehte die Dusche auf und war glücklich über das warme Wasser. Er duschte sich die Kälte vom Leib, legte die zwei Wolldecken aus dem Kleiderschrank über das Bett und fand darunter Ruhe und Wärme. Das Gebälk des Hotels ächzte unter den Windstößen. Jensen hatte das Gefühl, zusammen mit dem ganzen Haus den Wind zu spüren. Manchmal ging ein Ruck durchs Haus, und dem folgte ein besonders starkes Ächzen der Dachbalken. Man hätte denken müssen, dass ein so starker Sturm die Funkwellen wegwehte, dass ein Anruf aus Berlin ein kleines Handy hier gar nicht erreichte.
    Aber um halb zwei Uhr nachts klingelte es.
    Der erste Anruf von Lea seit seiner Abreise nach Lewis.
    Er betrachtete die Nummer auf dem Display, als sei sie eine verschlüsselte Botschaft.
    In einem plötzlichen Entschluss nahm er den Anruf an.
    »Ja«, sagte er.
    »Hier ist Toni«, sagte sie. »Toni Panneck. Ich bin’s. Hörst du mich?«
    »Ja, ich höre dich. Hallo, Toni.«
    »Hallo? Hörst du mich? Hier ist Toni Panneck. Du kennst mich doch! Ich rufe mit Mamas Handy an. Hörst du mich?«
    »Ich höre dich!«, rief Jensen. »Wie geht es dir? Ist etwas passiert bei euch?«
    »Jetzt höre ich dich«, sagte Toni. »Hörst du mich auch?«
    »Ja. Ist alles in Ordnung bei euch?«
    »Nein. Dein Hund ist krank. Er liegt nur rum und frisst nichts. Ich glaube, er stirbt bald, und dann müssen wir ihn in die Kadaveranstalt bringen. Das ist eklig.«
    »Rufst du mich deswegen an? Es ist fast drei Uhr nachts. Warum schläfst du nicht?«
    »Weil Mama weint. Sie hat schon gestern die ganze Zeit geweint. Wegen dir. Weil sie nicht weiß, wo du bist. Und weil du nicht anrufst. Wo bist du denn? Bist du auf Lewis? Sie sagt, dass du wahrscheinlich nach Lewis gefahren bist, weil du sie nicht mehr willst. Wie spät ist es bei dir?«
    »So spät wie bei dir. Ist Lea noch wach? Sag ihr, dass ich sie anrufe. Morgen.«
    »Nein. Morgen ist es zu spät. Und sie will nicht mit dir reden. Sie will, dass du wiederkommst. Wir üben morgen im Aikido Ukemi. Wie man hinfällt, ohne sich was zu brechen. Aber wenn sie die ganze Nacht weint, bringt sie mich nicht hin. Dann sagt sie: Ich bin müde, Schätzchen, fahr mit der S-Bahn. Ich hab aber keine Lust, das sind acht Stationen, und in der S-Bahn stinkt es, weil die Leute ihre Socken nicht wechseln. Du willst doch immer, dass ich Socken trage. Ich trag aber keine, wenn du nicht da bist. Ich hab ganz kalte Füße. Übermorgen bin ich bestimmt erkältet. Hast du eine andere Frau?«
    »Nein«, sagte Jensen. »Nein, ich habe keine andere.«
    »Warum kommst du dann nicht? Mama ist mager wie ein Knochen. Sie ist krank, wie der Hund. Wir sind alle krank hier. Ich noch nicht. Ich will erst noch Ukemi lernen. Aber dann werd ich bestimmt krank. Wenn du kommen würdest, würde ich Socken anziehen. Ich versprech’s dir.«
    »Das ist nicht so einfach.«
    »Mein Vater sagt, alles ist einfach. Außer vierhändig Klavierspielen, wenn der andere gestorben ist. Soll ein Witz sein. Aber ich finde ihn jetzt auch nicht mehr lustig. Bist du in Lewis?«
    »Ja.«
    »Wenn du morgen früh das Flugzeug nimmst, kannst du am Nachmittag hier sein. Ich weiß das. Der Flug dauert nur sechs Stunden, wenn man umsteigen muss. Dann kannst du mich ins Aikido bringen. Und Mama kann die ganze Nacht weinen, das macht dann nichts. Außer du willst nicht, dass sie dauernd weint. Aber dir ist das ja ganz egal. Du willst gar nichts mehr mit uns zu tun haben. Du bist wirklich fies! Du hast gesagt, dass du mich magst!«, rief sie, und ihr Schluchzen kam aus großer Tiefe. »Die
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