Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotglut

Rotglut

Titel: Rotglut
Autoren: Liliane u Rist Biggi Skalecki
Vom Netzwerk:
Prolog
    Juli 1961, Bremen

    Die Welt liegt zu seinen Füßen. Er ist unbeschwert, fühlt sich frei. Ein gutes Abitur in der Tasche wird ihm alle Möglichkeiten eröffnen. Seiner Zeit bei der Bundeswehr sieht er mit einer Mischung aus Spannung und Vorfreude entgegen.
    Der Junge liegt auf dem alten, mit Segeltuch bespannten Liegestuhl und überfliegt noch einmal seine Einberufungspapiere. Holzminden, Pionierbataillon 1, keine drei Stunden von Bremen entfernt.
    Es ist heiß. Er greift nach seiner Cola, trinkt das Glas in einem Zug leer. Irgendetwas hat ihn eben beim Rasenmähen gestochen und er reibt sich den rechten Knöchel. Er geht seiner Mutter zur Hand, verdient sich ein paar Mark. Gerade schneidet sie die verwelkten Rosen ab, dabei kann sie ihn nicht gebrauchen, er schneidet immer an der falschen Stelle. Der Junge liebt seine Mutter, aber manchmal geht sie ihm doch auf die Nerven mit ihrer Pedanterie.
    »Schatz? Schaaatz?«
    Träge öffnet er die Augen, die Einberufungspapiere sind ihm aus der Hand gefallen und liegen auf der Terrasse. »Hmmm«, brummt er schläfrig.
    »Schau, dass du heute Abend zum Essen da bist. Papa kommt rechtzeitig von seiner Dienstreise aus Wiesbaden zurück und er wird sich so freuen, wenn er hört, dass du womöglich in seiner alten Kaserne unterkommst. Vielleicht sogar noch in seinem alten Bett.«
    Er rollt mit den Augen, was seine Mutter natürlich nicht sehen kann. »Ach, Mama, die alten Flohpritschen gibt’s schon lange nicht mehr.«
    Er hört ihr unbeschwertes Lachen und es wird ihm einmal mehr bewusst, wie sehr er sie liebt. Natürlich liebt er auch seinen Vater, aber auf eine andere Weise. An ihm schätzt er seine Ehrlichkeit, seine Geradlinigkeit. Sein Vater tut in seinen Augen immer das Richtige, er möchte einmal so sein wie er.
    »Schaaatz, auf dem Dachboden der Garage steht der Behälter mit dem Läusegift, sei so nett und krabbel eben mal hoch. Die Läuse fressen mir bei der Hitze noch die ganzen Rosen auf.«
    Er stemmt sich aus dem wackeligen Liegestuhl. An das Garagentor angelehnt, steht die alte Holzleiter. Die beiden untersten Sprossen müssten endlich einmal ausgetauscht werden. Irgendwann würden sie durchbrechen. Der Junge steigt gleich über die dritte Sprosse auf die Leiter, drückt die Luke auf, klemmt sie fest, damit sie ihm nicht auf den Kopf kracht, und schiebt sich durch ein Spinnennetz auf den Dachboden. Suchend schaut er sich nach der Flasche mit ihrem giftigen Inhalt um. Plötzlich erstarrt der junge Mann. Sein Herz setzt einen Schlag aus.
    Die Sonne schickt ein paar Strahlen durch einen losen Dachziegel, goldene Staubpunkte tanzen darin, umgeben seinen Vater, hüllen ihn ein.
    Der Junge schreit nicht. Ganz ruhig steht er da, als betrachte er ein Bild im Museum. René Magritte. Sein Vater hängt da am Balken wie ein Melonenhut-Mann von Magritte. Dunkler Anzug, rote Krawatte, die Arme seitlich am Körper hängend, die Beine baumeln über einem Koffer, lächerlicherweise hat er noch seinen braunen Hut auf dem Kopf. Warum ist der nicht heruntergefallen, als sein Vater den Koffer, auf dem er gestanden hat, weggeschubst hat? Es ist nicht sein üblicher Reisekoffer. Der Inhalt dieses Koffers hier wurde nie in die Schubladen eines Hotelzimmers in Wiesbaden eingeräumt.
    Der Koffer, den der Junge registriert, ist uralt. Aus braunem Pappmaschee gemacht, aufgesprungen, als er umgefallen ist. Sein Inhalt liegt zu Füßen des baumelnden Vaters. Der Blick des Jungen fällt auf eine aktuelle Ausgabe des ›Spiegels‹, der Eichmann-Prozess beherrscht zurzeit die Presse. Sein Vater hat doch nie den ›Spiegel‹ gelesen, wundert sich der junge Mann. ›Linke Kampfpresse‹, so des Vaters Wertung.
    Der Junge weiß, dass es keinen Sinn mehr macht, den Vater von dem Strick um seinen Hals zu befreien. Er macht einen Schritt nach vorne, hebt ein Bündel Briefe auf, alt, mit Briefmarken darauf, die er noch nie gesehen hat. Er sieht die Umschläge durch. Alle an seine Mutter adressiert. Annelie Höffner, ihr Mädchenname. Die Schrift eindeutig die seines Vaters. Riesige Anfangsbuchstaben und dann die Buchstaben, immer kleiner werdend, so schräg nach rechts, dass sie fast liegen. Alle stammen aus dem damals besetzten Lothringen, sind chronologisch geordnet. Die Stempel sind verblasst, doch einen einzigen kann er entziffern. Natzweiler. Sofort werden in seinem Kopf Bilder lebendig, die er noch vor Kurzem im Fernsehen gesehen hat, Bilder von einem der grausamen Konzentrationslager.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher