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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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sehen.«
    Alasdair drückte auf ein Gerät, das wie eine Fernsteuerung aussah. Das Kopfende seines Bettes begann sich zu heben, bis der Alte im Bett saß. Die Sterbenden, dachte Angus, verfügten über alle Möglichkeiten, ihre Stellung zu wechseln. Gab es nicht sogar Betten, in denen man stehen konnte? In seinem Kopf leuchtete kurz das Bild eines Astronauten auf, der in einem solchen Bett irgendein Training absolvierte.
    »Wenn ihr nichts unternehmt«, sagte Alasdair, brachte den Satz aber nicht zu Ende, weil ihm die Luft ausging. Er schloss die Augen. Die Anstrengung des Sitzens war ihm anzumerken. »Fährt bald keiner mehr nach Sula Sgeir. Das wisst ihr. Deswegen habe ich euch gerufen.«
    Sean blickte Angus an. Sean hatte blaue Augen, die vom vielen Lesen klein geworden waren, und rote Äderchen zeugten davon, dass die dauernde Beschäftigung mit etwas so Kleinem wie Buchstaben ungesund war und etwas in den Augen zum Platzen brachte.
    »Was sollen wir tun?«, fragte Sean, ohne den Blick von Angus abzuwenden.
    Alasdair streckte die Hand aus.
    »Wasser«, sagte er.
    Sean reichte ihm das Wasserglas, Alasdair öffnete die Augen und schaute in das Glas. Nach langer Prüfung trank er einen Schluck. Das Wasser machte ihn schwer, er sank mit einem Seufzer ins Kissen.
    »Es ist mein Letzter Wille«, sagte er, hielt dann inne und versuchte, den Kopf zu wenden. Das war ihm aber zu anstrengend, er zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft und sagte: »Hört er zu?«
    »Ja, Alasdair«, sagte Sean, »wir hören beide zu.«
    »Nein, der andere«, sagte Alasdair. »Der Alte da. Ich kenne ihn nicht.«
    Sean und Angus blickten zu dem Kerl, den niemand kannte. Dessen Kopf lag tief in den Kissen, der Mund stand offen, ein dunkles, von gelben Zähnen bekränztes Loch, aus dem kein Laut kam.
    »Der schläft«, sagte Sean. »Mach dir keine Sorgen.«
    »Der war heute Morgen plötzlich da«, sagte Alasdair. »Hab ihn noch nie gesehen. Ich will nicht neben einem Fremden sterben.«
    »Ich glaube, es ist Blair Macfarlane«, sagte Sean. »Du weißt doch, die Macfarlanes aus Tunga, Sanitärinstallationen.«
    »Quatsch«, sagte Angus. »Die kenne ich alle. Wenn das ein Macfarlane ist, beiß ich mir die Hand ab.«
    »Jedenfalls«, sagte Sean, er schaute Angus an und legte den Finger an die Lippen, »sind wir unter uns. Er hört uns nicht. Du kannst sprechen.«
    Alasdair aber schwieg. Der Regen machte jetzt auf der Fensterscheibe Lärm, es klang, als würde man Schrotkugeln an eine Scheibe werfen. Der Wind hat gedreht, dachte Angus, von Südwest auf Nord.
    »Mein Letzter Wille«, sagte Alasdair, eine Träne rann unter seinem geschlossenen Augenlid hervor. Er hob die Hand, von der die Krankheit schon alles Fleisch weggenagt hatte. »Fahrt nach Deutschland. Ihr beide. Du, Sean, und du, Angus. Und sprecht mit ihr. Mit mir spricht sie nicht mehr. Sagt ihr, dass ich sie bitte, es nicht zu tun. Das Foto. Sie soll es nicht tun, ihrem Vater zuliebe. Damit ich ruhig sterben kann. Sagt ihr, es ist mein Letzter Wille. Nein. Wunsch. Letzter Wunsch, nicht Wille.«
    Alasdair öffnete plötzlich die Augen, sein Blick war nach nirgendwo gerichtet und glasig wie der eines toten Schafs. Er zog sich an dem Hebel, der wie ein Steigbügel aussah, mit beiden Händen hoch. Sein Ächzen klang unanständig.
    »Was ist denn?«, fragte Sean. »Soll ich die Krankenschwester rufen?«
    Alasdair starrte ein Loch in die Luft, sein Kopf wurde rot, seine Lippen verschwanden im Mund. Er legte den Kopf in den Nacken, und dann stieß er einen Rülpser aus, der etwas Endgültiges hatte. Danach lag Alasdair eine Weile zwischen den Falten der Bettwäsche und wurde allmählich wieder blass. Sean rückte den Stuhl ein wenig nach hinten und suchte mit der Nase nach frischen Luftströmen, denn Alasdairs Atem verpestete die Umgebung.
    Alasdair blickte Angus matt an. »Warum bist du noch hier?«, fragte er. »Und du, Sean? Warum seid ihr noch hier? Habt ihr nicht verstanden? Sprecht mit ihr. Und wenn sie nicht will …«
    Ja, dachte Angus, was dann? Das war nämlich der Punkt.
    »Dann besorgt euch das Foto irgendwie«, sagte Alasdair. »Alles hängt jetzt von euch ab.«
    »Du kannst dich auf uns verlassen«, sagte Sean mit kleiner Stimme, weil er versuchte, möglichst wenig einzuatmen. Der Atem von Sterbenden roch wirklich sehr intensiv, fand Angus. Wahrscheinlich lag’s an den Medikamenten. In Krankenhäusern lag überhaupt alles an den Medikamenten.
    »Nicht wahr, Angus?«, fragte
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