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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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Onanieren manchmal nicht mehr die gewohnte Stärke. Eine Schweißperle drückte sich ihm aus der Schläfe. Er wünschte sich, dass seine Erwartungen maßlos übertrieben waren. Der Hund musste in die Wärme, das hatte sie selbst gesagt, darauf konnte er sich im Notfall berufen. Sie atmete während des Treppensteigens schwer, blieb einmal sogar stehen, es waren doch aber nur ein paar Stufen.
    »Hast du manchmal Schmerzen in der Brust?«, fragte er.
    »Hatte ich schon als Kind«, sagte sie.
    »Lass es mal untersuchen.«
    Sie nahm eine weitere Stufe, drehte sich nach ihm um, schüttelte den Kopf und nahm die nächste. Nervöses Blut, dachte er, kein Übergewicht, aber ein gefährlicher Energieüberschuss, das Herz pumpt mehr Energie als Blut, Angina Pectoris, sie sollte es wirklich abklären lassen.
    Er fühlte sich ihr gesundheitlich überlegen, was nicht unangenehm war, aber die Lampe flackerte nach wie vor.
    Das Aufschließen der Wohnungstür geschah in angespanntem Schweigen. Sie zog die Stiefel aus, er fragte, ob er die Schuhe anbehalten dürfe, sie fragte: »Warum?« Er hätte sich in Schuhen sicherer gefühlt, zog sie aber natürlich aus, seine linke Socke beschämte ihn durch ein Loch beim großen Zeh. Sie aber erhob ihn wieder in den Status eines ehrwürdigen Mannes durch das Loch in ihren Strümpfen, an der Ferse, er betrachtete es voller Dankbarkeit. Er dachte, dass Zuneigung auf kleinen Defekten basierte.
    »Ich hole einen Teller«, sagte sie, »für den Hund. Bin gleich wieder da.« Sie lud ihn also nicht ins Innere der Wohnung ein, er hielt das für ein intelligentes Signal, mit dem sie ihm seinen Platz in der Nähe von Postboten und Bibelverkäufern zuwies. Er zupfte seine Socke nach vorn, damit das Loch sich weniger spannte. Jensen hörte Geschirr klappern, in einiger Entfernung, es schien eine geräumige Wohnung zu sein. Von seinem Platz aus konnte er ein Arbeitszimmer sehen. Der Schreibtisch weckte seine Neugier, einen Menschen kennenzulernen, der fähig war, in solch radikaler Unordnung zu arbeiten. Sogar auf dem Aquarium, das laut gurgelte, lagen Bücher, die Fische schienen alle bereits von herunterfallenden Romanen erschlagen worden zu sein. Nur eine Prachtschmerle war übrig geblieben, und auch sie lag schräg im Wasser.
    Über dem Aquarium hingen zwei Fotografien. Sie zeigten beide dieselbe winterliche Birke, neben der dasselbe Kind stand, auf dem einen Bild im Morgenlicht, auf dem anderen nachts, beleuchtet von einem Scheinwerfer. Die Ästhetik der Bilder war ergreifend, etwas Zwingendes lag darin. Jensen hielt es für legitim, sich ein wenig von seiner Postbotenposition zu entfernen, die Bilder hingen ja schließlich da, um angesehen zu werden. Aus geringerer Distanz betrachtet, entpuppte sich das Kind als Liliputaner, und sofort empfand Jensen die Bilder, die ihn zuvor sehr angezogen hatten, als geschmacklos.
    »Viele Leute verstehen das nicht«, hörte er Lea sagen. Sie stellte dem Hund einen Suppenteller hin.
    »Was?«
    »Dass Distanz eine Gnade ist.«
    Sie riss mit den Zähnen die Verpackung auf und füllte den Teller mit Hundecrackern. Der Hund schaute sich um, wie um sich zu vergewissern, dass auch wirklich er gemeint war. Als niemand widersprach, schnüffelte er an dem Futter, und nach einem Moment der Vorfreude fraß er wie ein Schwein, fand Jensen.
    »Möchtest du mich nicht fragen, wer die Fotos gemacht hat?«, sagte Lea.
    »Du?«
    »Aber das war früher. Ich hab das Fotografieren aufgegeben. Siehst du das?« Sie legte den Finger an ihre Nase. »Weißt du, was das ist? Das ist mein Tyrann.« Sie erklärte Jensen, dass jeder Mensch von einem der fünf Sinne besonders beherrscht werde. Sie habe die Fotografie geliebt, aber es habe ihr stets etwas Entscheidendes gefehlt dabei: der Geruch. »Ich steckte Energie in etwas, das nicht gut roch. Fotos riechen nicht gut, ich war olfaktorisch permanent unbefriedigt. Natürlich war ich beim Fotografieren dauernd von Gerüchen umgeben, aber das wäre auch ohne Kamera so gewesen, es war kein Zugewinn. Es ging um das Produkt, verstehst du? Ich wollte mit Produkten zu tun haben, die gut riechen, auch wenn es nicht meine Produkte waren. Ich war bereit, auf Kreativität zu verzichten zugunsten guter Gerüche. Ist das etwa toll? Nein, das ist doch wohl eher bescheuert! Deswegen sage ich, das hier«, sie kniff sich in die Nase, »ist mein Tyrann. Verstehst du?«
    Jensen nickte, er dachte: Sie könnte kompliziert sein.
    »Ich muss mich jetzt umziehen«,
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