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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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noch vor sich, nass, als würden die Tränen aus jeder Pore fließen.
    »Wie findest du den? Ernst Bloch«, sagte sie.
    Es hätte mehr als Mut gebraucht, um sie auf ihre Tränen anzusprechen, Unverfrorenheit wäre nötig gewesen. Er sagte: »Wenn man Gras essen könnte, würde nichts leichter fallen. Alles würde nämlich beim Alten bleiben. Es käme zu einer Grasknappheit«, sagte er, weil ihn der Gedanke fortriss, »Nahrungsmittelkonzerne würden Wälder roden lassen, um Grasplantagen anzulegen, und die, die sich früher gewünscht hatten, Gras essen zu können, würden es sich nicht mehr leisten können.«
    Lea schwieg lange, leise Geräusche von Stoff auf Stoff waren zu hören, sie zog die Nase oft hoch und öffnete dann die Tür, bedeckte ihr Gesicht unter dem Vorwand, sie sei schrecklich müde, sie konnte sich darauf verlassen, dass er nicht hauptsächlich ihr Gesicht betrachtete, sondern das schwarze Kleid, in dem sie hinreißend aussah, weil es mit dünnem, weichem Stoff die Hände lockte. Sie müsse ins Bad, sagte sie, wolle ihm aber noch ein Angebot machen, falls er fünf Minuten Geduld aufbringe.
    Es dauerte sehr viel länger, bis sie ihm ihr Gesicht wieder präsentieren konnte. Ihre schönen, großen, vom Weinen erschöpften Augen hinter schwarzen Lidstrichen, die Lippen rot nachgezogen, die Haare hatte sie nach hinten gekämmt, die Perlohrringe lagen frei. Während sie ihm das Angebot machte, blickte sie manchmal schräg nach oben an die Decke. Es war eine Methode, und Jensen kannte sie. Die tiefe Trauer über Annicks Betrug hatte damals dazu geführt, dass er selbst in der Straßenbahn die Tränen nicht bei sich behalten konnte. Er weinte öffentlich, verlor komplett das Recht auf Unauffälligkeit. Auf das Laufband einer Supermarktkasse vergoss er Tränen, auf die Hände von Kindern, die auf ihn zeigten. Er suchte Hilfe und entdeckte im Internet die Methode, bei Einsetzen des Weinreizes schräg nach links oben zu schauen, was den Tränenfluss blockierte. Und genau diese Methode wandte jetzt Lea an, während sie sagte: »Toni nervt mich schon lange mit Mama, Mama, wann kaufst du mir einen Hund? Der hier ist gut. Ich kann seinen Geruch einigermaßen verkraften. Erzogen ist er, das merkt man an seinen ängstlichen Augen, und er ist feige, er wird mir und Toni also nichts tun. Ich geb dir hundert Euro für ihn, dann hab ich ein kleines Problem weniger und du ein großes. Er erinnert dich doch nur an deine Exfrau, deswegen bekommst du eine Zornesfalte zwischen den Augen, wenn du ihn ansiehst. Du hoffst, dass er überfahren wird, aber vergiss nicht, er ist ein Blindenhund. Also gib ihn einfach mir, dann verschwindet diese Falte und Toni hat endlich einen Freund.«
    Warum hat sie geweint?, dachte er. Der Hund war nebensächlich, das Angebot bezog sich auf ihn, sie wollte ihn wiedersehen.
    »Darüber muss ich nachdenken«, sagte er.
    »Klar. Überleg’s dir. Komm morgen Mittag vorbei und sag mir, wie du dich entschieden hast.«
    »Ja«, sagte er. »Morgen Mittag.« Er hatte das Gefühl, eine Leine um einen Poller gelegt zu haben, er legte an.

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    5
    D ER NEGER MACHTE ANGUS NERVÖS. Die Wucht des Containerfahrzeugs so nahe bei den Flügeln, die Kraft von fünf Tonnen Stahl in den Händen eines Menschen, der von weit her kam und dem die Sicherheit der Einheimischen nicht sehr am Herzen lag. Auf den Flügeln stand, dass man sie nicht betreten durfte, was ja wohl bedeutete, dass sie nicht viel aushielten. Sie wippten jedes Mal auf unangenehme Weise, wenn der Neger einen Container ins Flugzeug wuchtete. Er war zu forsch, zu unbekümmert, zu gleichgültig, man sah es ihm an. Er dachte an seine Frau und die Kinder in Nigeria oder wo auch immer, das Schicksal der Passagiere kümmerte ihn nicht. Wenn Angus daran dachte, wie gleichgültig es ihm war, wenn da unten ein paar verhungerten, wurde ihm angst und bang. Dieser Neger war kein besserer Mensch als er, dementsprechend rücksichtslos belud er das Flugzeug, das rotierende Blaulicht hinten auf dem Containerwagen war Hohn.
    »Weißt du, wer da das Gepäck ins Flugzeug einlädt?«, fragte Angus. Sean schüttelte den Kopf, er blickte nicht einmal vom Buch auf.
    »Ein Neger«, sagte Angus.
    »Das ist bedenklich«, sagte Sean und blätterte eine Seite um. Angus fühlte sich allein.
    Er blickte aus dem Fenster, der Neger kratzte sich im Nacken, nur eine Hand am Lenkrad, während die Kante des Containers nur knapp den Flügel verfehlte.
    »Denen haben wir übel
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