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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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mitgespielt«, sagte Angus.
    »Wem?«
    »Den Negern.«
    Sean ließ endlich sein Buch und schaute Angus an.
    »Da hast du ganz recht. Die Kolonialzeit«, Sean nickte. »Ich wusste gar nicht, dass dich so was interessiert.«
    »Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus.« Ja, dachte Angus, denen haben wir tüchtig in den Arsch getreten, und jetzt lässt man sie Flugzeuge beladen, als ob sie bessere Menschen wären. Und was war das? War das überhaupt richtiges Glas? Angus tippte mit dem Fingernagel an die Fensterscheibe, es war Plastik. Und nun entdeckte er auch den Defekt, ein winziges Löchlein unten an der Scheibe. Er spürte seine Stirn heiß werden.
    »Die ist kaputt«, sagte er. »Die Scheibe.«
    »Das da?« Sean lächelte. »Mach dir keine Sorgen, das ist ganz normal.«
    »Aber es ist ein Loch!«
    »Das muss so sein.«
    Und wenn schon, dachte Angus, dann ist es eben vorbei. Bei diesem Gedanken entspannte er sich. Der Neger fuhr jetzt auch weg, sein Werk war getan, die Schäden angerichtet, es spielt keine Rolle, dachte Angus. In einer Stunde war er vielleicht tot, geschenkt, dachte er. Der Neger hätte ihm dann eine Sünde erspart, aber selbstverständlich nicht die Bestrafung. Er erwartete sie in irgendeiner Form, entweder vor oder dann eben nach dem Tod. Die Aussicht auf Strafe machte die Schuld erträglich, der Gedanke an die Hölle erleichterte ihm das Atmen. Er glaubte nicht an die Hölle, aber unbedingt musste es etwas geben, das diesen Namen verdient hatte und auf das man warten konnte, und während des Wartens wurde einem die Brust leicht. Wie dem Mann, über den Angus in einer Zeitschrift gelesen hatte, ein Kerl aus Glasgow, der sich in einem Sado-Maso-Salon das Brustbein zertrümmern ließ, mit einem Hammer. Und Angus hatte in diesen Mann geblickt und sofort verstanden, dass es dem Kerl nicht um den Moment der Zertrümmerung gegangen war, sondern um die Tage vorher, in denen er sich endlich mal zurücklehnen konnte.
    Ein Ruck drückte Angus in den Sitz. Das Flugzeug rollte rückwärts, Angus hielt sich an der Lehne fest.
    »Wir fahren rückwärts«, sagte er.
    »Natürlich«, sagte Sean. »Vorn ist ja der Terminal. Es geht nicht vorwärts. Also geht’s rückwärts. Wie im Leben.«
    Das sollte wohl eine schlaue Bemerkung über das Leben sein. Schweigend genoss Angus das Gefühl, sehr viel mehr über das Leben zu wissen als Sean, da es ihm ja kaum mehr so viel wert war wie ein Kilo Schafswolle.

[Menü]
    6
    D ER HUND ATMETE, manchmal schnaubte er leise, schmatzte, nachdem er gegähnt hatte, er gab sich redlich Mühe, Anwesenheit zu simulieren. Er war wie alle Hunde ein perfider Illusionskünstler. Er suggerierte Gesellschaft, wo keine war. Im Dunkeln lag Jensen auf seinem Hotelbett, und er war hier allein, der Hund war bestenfalls eine mobile Pflanze, mehr nicht. Und dieser Hund im Besonderen war nicht nur ein Täuscher, sondern ein Grabstein. Er konnte seinen Herrn nicht trösten, wie beispielsweise die Erdorchidee, die Jensen sich nach Annicks Auszug gekauft hatte und deren elegante, geradezu kluge Blätter jeden Morgen seine verweinten Augen gesalbt hatten. Diesen Hund schleppte Jensen wie eine Eisenkugel mit sich, er verunmöglichte ihm ein freies Ausschreiten; niemals durfte ein Hund seinen Herrn an Leid erinnern, denn dann wurde der Gedanke an Einschläferung sehr mächtig. Wozu jeden Morgen den Schmerz füttern, die bittere Erinnerung? Wozu in dem Hund immer aufs Neue den Tag sehen, an dem zum ersten Mal Schnee fiel?
    Es war im November, drei Uhr nachmittags. Wenn Jensen den Hund sah, sah er die Kaminuhr, deren Glockenwerk drei silberne Klänge ins Zimmer schnippte, als Annick sagte: »Es gibt da einen Mann.« Der Schnee begann zu fallen, Herbstschnee, viel Raum zwischen den Flocken, die noch sehr klein waren. Sie kamen Jensen vor wie das weiße, kalte Bühnenbild des Geständnisses. Marleen krabbelte über den Teppich, zerfloss hinter Jensens Tränen, die vor allem diesem Kind galten, das soeben seine Eltern verloren hatte und ihm unsäglich allein vorkam. In Zukunft würde es hin- und herschwingen, nie zur Ruhe kommen, nirgends lange verweilen.
    »Seit wann?«, fragte Jensen.
    »Drei Wochen nachdem ich nach Brügge gezogen bin.«
    Er fühlte etwas aus seiner Brust entweichen, sein Herz verlor die Temperatur, es wurde kalt, und daran war nichts Sinnbildliches. »Schon immer«, sagte er. »Du hast schon immer einen anderen gehabt.«
    Es gelang ihm nicht, es als Frage zu formulieren. Er war
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