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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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schon lange nicht mehr getan. Ich konnte nicht schlafen deswegen, und wenn man Fieber hat, muss man schlafen. Okay?«
    Sie hatte kein Fieber, ihre Augen waren klar, der Blick ausgeruht, sie war nur ein Hindernis, sonst nichts.
    »Ist sie wirklich nicht da?«, fragte Jensen.
    »Ja, sie ist wirklich nicht da, und ich will wirklich keinen Hund, und sie will dich wirklich nicht mehr sehen.«
    Jensen befürchtete, es könnte wirklich so sein. »Ich dachte, du wünschst dir einen Hund«, sagte er, er wollte nicht einfach wieder gehen. »Jedenfalls sagte das deine Mutter gestern. Deshalb bin ich gekommen. Um dir den Hund zu bringen.«
    »Ich will vielleicht einen Hund, aber nicht den. Er ist schwarz, und schwarze Hunde bringen Unglück. Und überhaupt: Ich darf nicht mit fremden Männern reden. Wenn du nicht gehst, sag ich, dass du mich angefasst hast.« Ihre Augen funkelten abenteuerlustig. Ein Schnaufen war zu hören, das Schaben von Schuhen auf Treppenstufen, Lea kam, sie sagte: »Ich fasse dich gleich an, wenn …« Sie stellte die Einkaufstüten ab, stützte sich auf das Geländer. »… wenn du nicht ins Bett verschwindest.« Ihr fehlte die Kraft für die letzten Stufen, das gerötete Gesicht glänzte, an der Stirn klebten Haare, die sie mit dem Handrücken wegstrich. Sie sah schlecht aus und entschuldigte sich: »Ich bin krank. Aber jemand muss einkaufen. Luzi hat heute Morgen angerufen, neununddreißig Fieber. Luzi ist meine Haushaltshilfe.«
    »Luzi arbeitet schwarz«, sagte Toni. »Sie dürfte gar nicht arbeiten. Ich erzähl’s vielleicht mal der Polizei, kommt ganz drauf an, wie ich hier behandelt werde.«
    »Ins Bett!«, sagte Lea. Jensen half ihr mit den Tüten, er achtete darauf, ihr nicht nahe genug für eine Tröpfcheninfektion zu kommen. Ein paar Stunden später steckte sie ihm die Zunge in den Mund und stieß auf keine Gegenwehr. Aber bis dahin war noch viel zu erledigen. Sie sagte, sie müsse am Nachmittag im Geschäft die neue Aushilfe einweisen, ein schüchternes Mädchen, das Blumen liebe, aber menschenscheu sei, und er solle die Tüten in die Küche stellen. Jensen sagte, er könne auch morgen wiederkommen, wegen der Hundeübergabe, übermorgen allerdings fliege er nach Belgien zurück, sie sagte: »Ich muss mich hinlegen, fühl mal.« Sie führte seine Hand an ihre Stirn, die heiß war und feucht, Jensen wusch sich hinterher die Hände. »Machst du mir einen Tee?«
    »Natürlich«, sagte Jensen, sie wünschte sich Kamille, und dass er zwei Socken in Essig einweichte, sie reichte sie ihm aus ihrem Kleiderschrank, dicke Wollsocken, die ihn aber merkwürdigerweise erregten, in der Küche roch er daran und kam sich abscheulich vor.
    Er inspizierte in der fremden Küche die Schubladen, Löffel, Tasse, Topf, alles musste entdeckt werden, der Kamillentee hatte das Ablaufdatum vor einem Jahr überschritten, die Beutel fühlten sich wirkungslos an.
    »Was machst du denn da!« Toni stand in der Tür, die nackten Füße auf der Schwelle, eine kleine Zehe war rot lackiert.
    »Ich mache deiner Mutter einen Tee. Du könntest mir helfen. Wo sind die Töpfe?«
    Toni wies mit dem Kinn in eine unbestimmte Richtung.
    »Wieso machst du ihr Tee? Willst du ihr Freund sein?«
    »Ich mache ihr nur einen Tee.«
    »Irgendwie muss es ja anfangen«, sagte Toni. Sie rückte einen Stuhl an den Küchenschrank, stieg darauf und musste sich strecken, um aus einem erhöhten Schrankfach eine Tasse zu greifen.
    »Sie ist von einem bösen Geist besessen«, sagte Toni vom Stuhl herunter.
    »Wer?«
    »Sie. Mama. Von einem …« Toni flüsterte: »Dibbuk. Man darf es nicht laut sagen, sonst wird er aufmerksam.«
    »Ich verstehe.« Jensen merkte, dass er zu viel Respekt vor ihr hatte, sie war eine Hochstaplerin, das durfte man nicht vergessen. »Im Ernst«, sagte er. »Glaubst du das wirklich?«
    Sie nickte langsam.
    »Du bist elf, nicht wahr?«
    »Ich hatte letztes Jahr drei Papas«, sagte sie. Jensen sah die ersten Bläschen im Teewasser hochsteigen.
    »Ach ja?«, sagte er. Es interessierte ihn sehr, mehr über die Bedingungen zu erfahren, die hier herrschten.
    »Es schneit«, sagte Toni, sie wollte ihren Trumpf nicht gleich ausspielen.
    Jensen schaute zum Küchenfenster hinaus: Flocken, ruhig, träge, er verbot es sich, darin ein schlechtes Omen zu sehen. Es war außerdem beileibe nicht der erste Schnee dieses Jahr, dafür war der Winter zu hart.
    »Ja, drei Papas«, sagte Toni endlich. »Der erste hieß Frederick, das war schon mal
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