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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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sagte sie. »Wir können aber weiterreden, ich lasse die Tür einen Spalt offen.« Sie meinte die Tür ihres Schlafzimmers, die sie jetzt aufstieß. Jensen sah ein weiß bezogenes großes Bett, einen antiken Schrank, Lea, wie sie ins Zimmer ging, dann verengte sich sein Blick auf einen Streifen Schrank.
    »Toni ist mit einer Freundin im Kino«, hörte er Lea hinter der handbreit geöffneten Tür sagen. »Mit meiner Freundin, wohlbemerkt. Mit gleichaltrigen Mädchen kann Toni nicht viel anfangen, sie sagt immer, ihre Gehirne seien unreife Pflaumen, hart und trocken. Sie mag die reiferen Gehirne von Erwachsenen mehr, sie glaubt, dass die sich beim Denken dehnen wie ihres. Verstehst du?«
    »Wie alt ist sie?«, fragte Jensen.
    »Elf. Und wie alt ist deins?«
    »Sie wird bald zwei.« Unter den Augen eines anderen, dachte Jensen. Ein anderer hatte ihr erstes Wort gehört, ihre ersten Schritte beklatscht, ein Möbeldesigner aus Yonkers, Jensen pulsierten die Schläfen, wenn er an den überdurchschnittlich hohen Anteil von Pädophilen in der Berufsgruppe der Möbeldesigner dachte. Vielleicht verwechselte er es mit Informatikern, egal, der Mann hatte sich sein Kind angeeignet. Und bestimmt war es der Typus Mann, für den ein Kind nur Futter für die Videokamera war, ein voyeuristischer Klicker, der sich die ersten Schritte, die ersten Worte, den ersten Schultag auf dem Computerbildschirm ansah und selbst dann noch nicht begriff, was da geschehen war. Der Hund leckte sich widerlich über die von Fressgier geröteten Lefzen, und in seinem Blick lag so wenig Wissen über Betrug und Leid, über Schmerz und Verzweiflung, dass Jensen ihn am liebsten im Aquarium ersäuft hätte.
    »Was soll ich anziehen?«, fragte Lea. »Ich muss zu einem Elternabend. Toni hat im Augenblick keine Probleme in der Schule. Wenn sie welche hätte, würde ich einen Rock anziehen. Man kommt einfach weiter damit. Aber so reicht auch eine Hose, was meinst du?«
    Einen verwirrenden Moment lang sah er im Türspalt Leas Brüste, die Schranktür klappte auf und beendete diesen Anblick. Unter der mit Schnitzwerk verzierten Tür sah er ihre Füße, schwarz lackierte Nägel, jetzt, im tiefsten Winter, er dachte: Sie hat einen Freund, und es ist keiner, der so ist wie ich.
    »Ja, zieh eine Hose an«, sagte er, der Flüsterer vor der Kemenate der Königin. Da er manchmal die Absicht hinter ihren Fragen nicht verstand, hielt er Bestätigung für das Sicherste.
    Sie fragte ihn, was er beruflich mache, er sagte, er sei Polizist gewesen, das erzeugte ein längeres Schweigen. Sie fragte ihn, ob er einen schönen ersten Satz kenne. Er begann sie anstrengend zu finden, die ganze Begegnung setzte sich aus Fragmenten zusammen, und stets gingen die Impulse von ihr aus. Was sie nicht interessierte, wie etwa seine Vergangenheit als Polizist, überhüpfte sie, um an einem völlig unerwarteten Ort ihrer Wahl zu landen, bei ersten Sätzen, und wenn er den Anschluss nicht verlieren wollte, musste er diese Sprünge nachvollziehen, dabei überdehnte sich sein Gehirn.
    »Fällt dir keiner ein?«, fragte sie, sie ließ ihm wenig Bedenkzeit.
    »Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke«, sagte er, »der Türke ein.« Dass ihm überhaupt ein erster Satz zur Verfügung stand, erstaunte ihn, erste Sätze waren ihm bisher völlig gleichgültig gewesen.
    »Das klingt nach Karl May«, sagte sie.
    »Winnetou.«
    »Ich ziehe lieber doch einen Rock an.« Der Türspalt füllte sich wieder mit ihr, jetzt trug sie schwarze Strumpfhosen und sah, obwohl sie sonst nichts trug, gemütlich aus.
    »Immerhin kanntest du einen«, sagte sie. »Ich finde ihn allerdings ein wenig trivial. In den letzten Jahren ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. So was mag ich.«
    »Kafka«, sagte er wie einer, der im letzten Moment den Zug noch erwischt.
    Sie sagte etwas, in munterem Ton, das er nicht verstand, akustisch nicht, und als er sie bat, es zu wiederholen, drehte sie den Kopf, und er sah, dass ihr Gesicht nass war, dass ihre Augen in Tränen schwammen. Das war nichts Kürzliches, sie musste schon die ganze Zeit über geweint haben, seit sie sich umzog. Ihn wunderte, dass er es ihrer Stimme nicht angehört hatte, es deutete auf Übung hin, sie verstand es, zu weinen und dabei einen Witz zu erzählen.
    »Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen«, hörte er sie sagen, mit dieser täuschend echten munteren Stimme. Er konnte ihr Gesicht jetzt nicht mehr sehen und sah es doch immer
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