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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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leckte.
    Draußen hielt er die Hand in den Verkehrsstrom, er winkte ein Taxi heran. Er hatte zu viel Zeit verloren, zu Fuß wäre er zu spät zur Beerdigung gekommen.
    »Zum Friedhof«, sagte Jensen.
    »Urnen oder Gräber?«, fragte der Fahrer.
    Plötzlich kam Jensen in den Sinn, welche Blumen Franziska nicht gemocht hatte. Ein Urlaub in Holland, er war zehn Jahre alt gewesen, Franziska acht, ein kluges, stilles Mädchen ohne Schneidezähne. Bei der Besichtigung eines Tulpenfeldes fragte sie: »Warum gibt es hier so viele von diesen hässlichen Blumen?« Tulpen hatte Franziska nicht gemocht, Zissi, aber sie hatte in Schuhkartons Weinbergschnecken gehalten, der Geruch von feuchter Pappe, welkem Salat und Schneckenkot stieg Jensen in die Nase. Die Erinnerungen griffen ihm ans Herz, und zum ersten Mal seit Zissis Tod weinte er, der Taxifahrer verstellte den Rückspiegel, um es besser zu sehen. In die Tränen um Zissi mischten sich Tränen um Annick, wo war denn der Unterschied? Die eine war gestorben, die andere hatte ihn verlassen, und er, fiel ihm jetzt ein, hatte den Hund vergessen, der war noch ans Halteverbot gefesselt. Und wenn schon, Hunde gehörten ins Wetter, man hätte sie gar nie in die Wohnzimmer lassen dürfen. Hunde wurden dann eben später geholt, wenn die Toten begraben waren.

[Menü]
    3
    S EIN MUND WAR trocken vom Reihern. Der Regen floss ihm in den Nacken, berührte kalt die Stelle zwischen den Schulterblättern. Angus hatte gegessen: zwei Scheiben Haggis, zwei Spiegeleier, zwei Handvoll Bohnen, zwei Würstchen, von allem zwei. Gereihert hatte er aber doch bestimmt schon zehn Scheiben Haggis, zehn Eier, wo kam das überhaupt alles her? Wenigstens war man hier draußen an der Luft, die nach Salz, Jod und ganz kurz nur nach Erbrochenem roch, während es drinnen, in dem Raum, wo sie alle krank waren, nach ausgezogenen Schuhen stank, nach feuchten Wetterjacken. Und nach Muschen, dachte Angus, bei Gott, er konnte das riechen. Um sich bei der Überfahrt abzustützen gegen den Wellengang, spreizten die Frauen ihre fetten Beine, und es musste immer die engste Jeanshose sein, weil sie ja nach Ullapool fuhren, vielleicht sogar nach Edinburgh, um groß einzukaufen und sich einen Bürokerl anzulachen, und dann roch Angus eben die Muschen der Schafzüchterstöchter. Es hieß, der Weihnachtsmann bringe das Duschwasser, zwischendurch, wenn eine Heirat bevorstand, auch mal der Osterhase.
    Der Wind griff in seine Haare, kämmte sie ihm in alle Richtungen. Südost, schätzte Angus, aber auf dem Wasser verließ ihn sein Sinn für Richtungen. Die Buggischt spritzte ihm das Gesicht nass, er hasste das Meer, wenn er auf ihm war. Er mochte das Meer, wenn er in Port Nis über dem schlechten Hafen stand und von dort auf all das Wasser blickte. Er wusste dann, dass die Insel sicher war. Meterhohe Wellen rollten bei Südwest in den Hafen, die Schiffe zerrten wie Wildpferde an den Tauen. Für die, die Schiffe besaßen, war der Hafen Mist, dauernd splitterte Holz, die Motorschrauben mussten ausgedellt werden, weil sie gegen die Quaimauer gekracht waren. Aber Angus machte in Schafen, nicht in Krabben, ihn beruhigte der schlechte Hafen, ihm gefiel es, dass Lewis bei schlechtem Wetter manchmal tagelang isoliert war. Isoliert. Das Wort hatte Sean einmal benutzt, mit runtergezogenen Mundwinkeln.
    Angus spürte eine Baggerschaufel in seinem Unterleib, sie baggerte den letzten Schleim hoch, der da noch war. Angus würgte ihn ins Meer, der Wind riss ihm einen Schleimfaden von den Lippen. Sean war wohl nicht gerne isoliert, schon zweimal war er nach Boston geflogen, er wusste wohl nicht, wie man ein Fernsehgerät einschaltet. Fünfhundert Pfund hatte Sean bezahlt, für jede Reise wohlbemerkt, und was erzählt er, als er zurückkommt? Dasselbe, das man sieht, wenn man den Fernseher einschaltet, wenn eine Sendung über Boston kommt. Angus lachte. Er wusste natürlich, dass es nicht so einfach war, aber trotzdem. Er stand jetzt seit einer halben Stunde an der Reling, mit dem Gesicht zum Meer. Aber wer lachen kann, der kann sich auch mal wieder umdrehen. Ihm wurde sofort übel. Er fixierte eine weiß übermalte Schraube, die zu den Schrauben gehörte, die das Bordfenster festmachten. Hinter dem dicken Glas konnte er Sean erkennen, der zwischen den Seekranken ein Buch las, zwei Finger an den Lippen. Manche Leute fuhren so Auto, mit zwei Fingern an den Lippen, Sean las so Bücher.
    Angus drehte sich wieder dem Meer zu, das ihm vorkam wie
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