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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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Sean.
    »Wir werden ihr nichts tun«, sagte Angus. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
    Alasdair starrte ihn an, etwas blitzte in seinen Augen auf. Er sagte aber kein Wort.

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    2
    D ER HERR WAR GEFÄHRLICH. Und stark, aber dumm. Spürte er denn nicht die Luftwellen, empfand er nicht die Größe und Schnelligkeit der Dinge, die an ihm vorbeifuhren? Abseits jeder Markierung wollte er rübergehen auf die andere Seite, das musste verhindert werden. Der Hund schmeckte auf der Zunge das Trockenfutter, mit dem der Ausbilder ihn jeweils belohnt hatte, wenn er sich in solchen Situationen dem Herrn widersetzt hatte. Deine Herren, sagte der Ausbilder, sind stärker, aber dümmer als du, hast du das jetzt kapiert? Gib mir noch ein bisschen von dem leckeren Futter, dachte der Hund, dann fällt mir das Kapieren leichter. Der Ausbilder war ein guter Herr gewesen. Im Schritt hatte er wunderbar gerochen, aber der Ausbilder hatte dem Hund diesen Genuss von Anfang an abgewöhnt durch unangenehmen Lärm. Der Hund war nie dahintergekommen, wie der Ausbilder diesen Lärm erzeugte, es geschah hinter vorgehaltener Hand und war schmerzhaft.
    Nun aber die fehlende Markierung und der gefährliche Herr, der nach Schweiß roch, er hatte Angst. Der Hund empfand einen Moment lang den Wunsch, dem Herrn in den Fuß zu beißen, seine Sehnen zu durchtrennen, ihn zum Humpler zu machen, damit die Kollegen an seinen Hals gelangen konnten. Aber da waren keine Kollegen. Kollegen, das war es, was der Hund am meisten vermisste. Einer wie er hätte unter Kollegen leben müssen, ein tägliches Bad in ihren Gerüchen hätte seine Sinne geschärft. In der Gesellschaft von Herren stumpfte man ab, und der hier war der Schlimmste.
    Der Hund erblickte nirgends eine Markierung, außer der falschen. Die falsche verlief in der Mitte der Straße. Wenn man ihr folgte, erzeugte der Ausbilder den unangenehmen Lärm. Zwei Arten von Markierungen waren erlaubt, jene, bei der auf eine dicke Markierung nichts folgte und dann wieder eine dicke, und die andere, bei der man sich in der Mitte zwischen zwei Markierungen bewegte. Doch nichts von alledem war hier vorhanden, so dass der Hund den Herrn von den gefährlichen Luftwellen, den mächtigen Dingen wegzuzerren versuchte. Der Herr, ein störrischer und eigensinniger Mensch, dazu dumm wie das Schäumchen auf der Spucke, zerrte aber mit Gewalt den Hund in die andere Richtung, in den sicheren Tod. Jetzt nicht bellen, nicht knurren, nicht wütend werden und Blut suchen durch einen Biss in den Fuß; das Knacken des Knöchels, saftiges Nass, auch die Schreie wären nicht zu verachten gewesen – all diese verlockenden Vorstellungen musste der Hund verscheuchen, denn er hatte eine klare Vorstellung von dem, was gut war, und von dem, was nicht belohnt wurde. Wenn der gefährliche Herr abseits aller Markierung übersetzen wollte, so war ihm die Macht gegeben, das zu tun. Wenn der Dummheit des Herrn nur ein Hund entgegenstand, war ihr der Sieg sicher.
    Jensen brach die Brücken zu dem Hund ab. Dieses Tier würde niemals begreifen, dass er nicht blind war. Seine frühere Herrin war es gewesen. Aber die Herrin war dem Hund davongelaufen. Eine Blinde ließ ihren Blindenhund im Stich. Jensens Schultern verspannten sich bei dem Gedanken.
    Er zerrte den Hund über die Straße, und vor einem Blumengeschäft wickelte er die Leine um die Stange eines Verbotsschildes, er vertäute den Hund mit einem Schifferknoten. Dem Hund war es nicht recht, es verstieß gegen sein Prinzip der permanenten Gefolgschaft.
    »Sitz!«, sagte Jensen, aber der Hund gehorchte nicht.
    Jensen fror, und er war in Eile und empfand es als Zumutung, nirgends allein hingehen zu können, ohne zuvor einen Hund festbinden zu müssen. Er hatte den Hund noch nie getreten. Aber der Gedanke an Annick, die dem Hund und ihm davongelaufen war, löste einen dunklen Impuls aus.
    »Sitz!«, sagte er, und seine Hoffnung erfüllte sich. Der Hund setzte sich nicht. Es war ein milder Tritt, den Jensen ihm versetzte. Ein Schubser, mehr nicht. Ein Klaps mit der Schuhspitze.
    Rasch entfernte sich Jensen, sein Herz klopfte. Und dann traf ihn mit großer Wucht ein Blick voller Trauer und Entsetzen. Hinter der Schaufensterscheibe des Blumengeschäfts stand eine Frau, sie hatte seine kleine, sinnlose Züchtigung beobachtet. Ihr schönes Gesicht wurde von Spiegelungen überlagert, die Geister von Autos fuhren darüber. Einen Moment lang herrschte eine merkwürdige Intimität zwischen
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