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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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Luft.
    »Kriegst du gleich«, sagte Moira MacAskill.
    »Soll noch zwei Tage dauern, der Sturm«, sagte der Bursche mit Blick auf Jensen.
    »Am Mittwoch soll’s besser werden«, sagte Moira MacAskill. »Kann man nichts machen«, sagte der Bursche.
    Sie schob ihm die zwei vollen Gläser hin. Auf dem Weg zum Billardtisch trank er aus seinem Glas einen tiefen Schluck.
    »Das ist auch so einer«, sagte Moira MacAskill leise. »Einer von denen, die sich für nichts interessieren außer Fußball und Sex. Und Craig mit seiner Liebe zum Papier … darüber konnte er hier mit niemandem sprechen. Mit Grace natürlich schon. Aber ihr ging’s wie mir: Wir hörten ihm gerne zu, aber so richtig begriffen haben wir es nicht. Wir nannten ihn immer den Papiertiger. Ich glaube, er hat sich manchmal ziemlich einsam gefühlt unter uns Schafsköpfen. Und es hat ihn gekränkt. Dass die Leute hier immer nur Craig, den Lehrer sahen und nie Craig, den Experten. Als er aus Moskau zurückkam, von diesem Kongress, haben die Leute gesagt: Warst du weg? Haben wir gar nicht gemerkt. Und Craig sagte: Ja, ich war weg. Ich hab vor dem russischen Innenminister einen Vortrag gehalten über Papier für Pässe. Und die Leute sagten: Ach so. Und dann vergaßen sie es einfach. Wenn er gesagt hätte, ich hab einen Vortrag gehalten über künstliche Besamung bei Schafen, hätten sie große Ohren gekriegt. Aber Papier. So was behalten die gar nicht im Kopf.«
    Sie goss sich ein neues Glas voll.
    »Und seine Schüler«, sagte sie. »Zeichnen und Kunst war für die so was Ähnliches wie schwul sein. Als Mensch war er bei den Schülern beliebt, aber der Rest hat sie nicht interessiert. Ich weiß noch, wie enttäuscht er war. Vor fünf Jahren. Oder sechs. Er wollte den Schülern in einem Kurs zeigen, wie man Papier herstellt, das so aussieht wie alte Schatzkarten. Es war ein freiwilliger Kurs, am Samstagnachmittag. Und nur eine einzige Schülerin ist gekommen. Und auch nur, weil sie in ihn verliebt war.«
    Sie schaute Jensen an und sagte: »Ich rede und rede. Das liegt an Ihnen. Sie bringen mich zum Reden über Craig. Er war ein großartiger Mensch. Er war voller Wärme und Verständnis. Das klingt jetzt so normal. Ich bin nicht so gut mit Worten.«
    Sie schwieg, trank.
    »Lea Murray und ich«, sagte sie in vertraulicherem Ton, »waren damals dicke Freundinnen. Obwohl ich ein ganzes Stück älter bin als sie. Craig war ihr Lieblingslehrer. Na ja. Aber sich in Craig zu verlieben war für alle Schülerinnen Pflichtfach.« Sie lächelte. »Und zwar nicht nur früher. Das war bis zu seinem Tod so. Wissen Sie, wie er gestorben ist?«
    »Ja.«
    »Er ist abgestürzt«, sagte sie. »Vor anderthalb Jahren. Er war mit den anderen Männern auf Sula Sgeir. Das ist eine kleine Insel westlich von hier. Er war da, um die Vögel zu jagen. Wir nennen es Guga Cull. Und da ist er abgestürzt. Nachts. Das war eine Woche nach meinem Geburtstag. Er hat mir ein Porträt geschenkt. Von mir. Eine Woche vor seinem Tod, verstehen Sie. Möchten Sie es vielleicht sehen? Es hängt in meinem Büro. Ist gleich da hinten. Ich glaube, er hätte sich gefreut, wenn Sie sich’s ansehen. Er hat sich immer gefreut, wenn sich jemand für seine Zeichnungen interessiert hat.«
    Jensen folgte ihr in ihr Büro. Sie knipste die Schreibtischlampe an und verdrehte den Schirm, um die Zeichnung zu beleuchten, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hing.
    Jensen fand die Striche starr, die Zeichnung floss nicht. Man erkannte Moira MacAskill, aber die förmliche Darstellungsweise ließ keinen Raum für mehr als bloßes Erkennen.
    »Er konnte wirklich sehr gut zeichnen. Finden Sie nicht?«, sagte sie.
    »Ja. Er konnte gut zeichnen.«
    Etwas irritierte Jensen. Er trat näher, und jetzt erkannte er die Patina auf dem Zeichnungspapier. Die Flecken. Das Papier wirkte alt, das Gesicht darauf entsprach aber zeitlich dem von Moira MacAskill, wie sie neben ihm stand.
    »Wann hat er Sie gezeichnet?«, fragte er.
    »Vor anderthalb Jahren. Kurz vor seinem Tod. Hab ich doch gesagt. Finden Sie’s nicht gut?«
    »Doch. Ich frage nur, weil das Papier so alt aussieht.«
    »Ich bin alt. Aber das Papier nicht.«
    Sie lachte verhalten.
    »Nein, das Papier ist neu«, sagte sie. »Aber er wollte, dass es so alt aussieht, wie ich bin. Er hat nie auf gekauftem Papier gezeichnet. Er hat’s immer selber hergestellt und es dann künstlich alt gemacht. Und zwar so alt wie das, was er gezeichnet hat. Er hatte wirklich den Bogen raus.
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