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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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polieren. Dann schneuzte sie sich in ein blaues Taschentuch. Sie winkte Jensen zu sich.
    »Jetzt verstehe ich«, sagte sie.
    Jensen setzte sich auf den Barstuhl ihr gegenüber.
    »Es tut mir leid«, sagte er.
    Sie lächelte. Sie hatte Tränen in den Augen.
    »Und jetzt reden Sie auch noch wie er. Ihm hätte es auch leidgetan, wenn er einem Toten so ähnlich gesehen hätte wie Sie.«
    Nicht das auch noch, dachte er. Nicht auch noch Wesensähnlichkeit.
    »Ja«, sagte er. Er wich ihrem vergleichenden Blick aus, schaute hinüber zu den zwei Burschen, die schweigend die Kugeln klacken ließen.
    »Wegen denen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte sie. »Die haben ihn nicht gekannt. Von ihm gehört, ja. Aber nicht gekannt. Möchten Sie ein Bier?«
    »Gerne.«
    Sie zapfte das Bier, der Schaum rann über das Glas. Sie wischte sich mit dem Finger eine Träne unter dem Augenlid weg.
    »Ich möchte Sie nicht lange stören«, sagte Jensen.
    »Es geht schon. Ich muss mich nur erst … daran gewöhnen. Calum hat mich heute angerufen. Er sagte, dass einer hier ist, der so aussieht wie Craig. Ich dachte mir schon, dass Sie hier vorbeikommen. Aber ich hab’s mir nicht so quälend vorgestellt.«
    »Wenn Sie möchten, gehe ich wieder.«
    »Das würde nichts mehr ändern.«
    Sie stellte ihm das Bier hin. »Sie möchten bestimmt etwas über Craig wissen. Also bitte. Fragen Sie. O Gott! Entschuldigen Sie bitte.«
    Sie drehte ihm den Rücken zu, und Jensen sah im Spiegel des Flaschenregals ihre Erschütterung, die Tränen. Er fühlte sich falsch von der Sohle bis zum Scheitel. Er war ein Ereignis, das nicht hätte stattfinden dürfen.
    Nach einer Weile drehte sie sich um, betrachte ihn lange und jetzt ganz offen, als habe sie beschlossen, sich ihm zu stellen.
    »Es geht um Lea Murray, nicht wahr?«, sagte sie. »Calum hat mir erzählt, dass Sie mit Lea zusammen sind. Und Sie machen sich Sorgen, sagt er. Wegen der Ähnlichkeit. Offenbar hat sie’s Ihnen nicht gesagt? Dass Sie aussehen wie er?«
    »Nein.«
    Sie goss sich einen Whiskey ein.
    »Und jetzt? Was wollen Sie von mir hören? Die Wahrheit oder das, was Sie hören wollen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ach! Sie wissen’s nicht! Dann ist es ja gut. Ich weiß es nämlich auch nicht.« Sie trank den Whiskey in einem Zug. »Ich hab keine Ahnung, ob Craig was mit Lea Murray gehabt hat. Aber es muss Ihnen sehr wichtig sein, sonst wären Sie nicht hier. Also werde ich ganz ehrlich sein. Und ich werd’s kurz und schmerzlos machen. Weil mich das alles … nicht gerade glücklich macht. Ich kann Sie verstehen, glauben Sie mir. Ich an Ihrer Stelle würde auch alles wissen wollen. Also. Craig war viel unterwegs. Auf dem Festland. Aber auch im Ausland. Und er war ein gutaussehender Mann. Sie brauchen ja nur in den Spiegel zu schauen. Auf einer dieser Reisen hatte er mal was mit einer Spanierin, in Madrid. Grace wusste es. Grace ist seine Frau. Seine Witwe. Sie wusste es, und sie hat’s ihm verziehen. Na ja. Und er war auch drei- oder viermal in Berlin. Ohne Grace.«
    »Er war viel unterwegs?«, sagte Jensen. MacLeod hatte das Gegenteil behauptet. Aber natürlich, auf kleinen Inseln, in kleinen Dörfern glaubten die Menschen einander besser zu kennen, als es der Fall war.
    »Viel ist vielleicht übertrieben«, sagte sie. »So zwei- oder dreimal im Jahr. Er war ja Experte. Er wurde zu Kongressen eingeladen. Einmal sogar nach Moskau.«
    »Was für ein Experte war er denn?«
    »Für Papier. Aber das war nur nebenamtlich. Er war ja Lehrer. Hat Mathematik und Zeichnen unterrichtet. Er mochte das. Die Gegensätze. Das Schöne und das Nützliche. Und Papier, das war für ihn … ich weiß nicht, eine Leidenschaft. Vielleicht, weil es auch schön und nützlich ist. Das hat ihn schon immer interessiert. Schon als Junge hat er im Keller Papier selber hergestellt, schönes, mit Wasserzeichen und allem Drum und Dran. Ich hab heute noch den Geruch nach Leim und feuchtem Holz in der Nase. Er sagte immer, eine Zeichnung besteht zu neunundneunzig Prozent aus Papier und zu einem Prozent aus Zeichnung. Craig wusste einfach alles über Papier. Er hat mir wahre Vorträge drüber gehalten. Der arme Kerl! Es hat mich nie wirklich interessiert. Hier ging’s rein, dort wieder raus. Ich hab alles vergessen. Aber zugehört hab ich ihm immer gern. Es war so schön, ihn so leidenschaftlich reden zu hören über etwas so Normales wie Papier.«
    Einer der Burschen schlenderte zur Theke, streckte zwei Finger in die
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