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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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    Die Maschine
    H einrich Pflog saß regungslos da. Was von seinen Händen übrig war, krümmte sich um die Armlehnen seines Sessels, der Oberkörper war leicht nach vorn geneigt, den Blick hielt er starr auf die Maschine gerichtet.
    Die Stahlwalze, zwei Meter zwanzig breit, rollte über das Walzbett, drei Meter sechzig, hin und her, hin und her, unaufhörlich im Takt eines langsam, doch kraftvoll schlagenden Herzens.
    Die Standuhr am anderen Ende des Saales schlug zehn, Heinrich wusste nicht, ob am Vormittag oder am Abend. Der sonst volle Klang wurde vom Rhythmus der Maschine übertönt, der jeden Kubikzentimeter von Heinrichs Reich ausfüllte.
    Heinrichs Leib neigte sich ein wenig weiter nach vorn, Schmerz durchzuckte ihn, sein Gesicht fühlte sich an, als stünde es in Flammen. Einerlei! Schmerz spielte keine Rolle, Essen spielte keine Rolle, Tag und Nacht spielten keine Rolle. Nur seine Arbeit war wichtig. Die Maschine und er waren eins, auch für sie spielten Tag und Nacht keine Rolle. Sie wollte nicht gefüttert werden, wollte niemals schlafen. Arbeit war alles, was sie brauchte, und sie schöpfte ihre Kraft aus einer unerschöpflichen Quelle. Wenn auch er aus dieser Quelle schöpfen könnte … würde ihn das unsterblich machen? Sein Hirn formte Worte, Perpetuum mobile, Perpetuum mobile, Perpetuum mobile, wieder und wieder. Die ewig sich Bewegende, Königin der Maschinen, ein Wesen aus Stahl, von derselben Lebensenergie beseelt, die sein eigenes Herz unablässlich schlagen ließ. Heinrich spürte der Mischung aus Triumph und Verzweiflung nach, die seine Brust abwechselnd weit und eng machte, weit und eng, auch hier das ständige Hin und Her.
    Triumph: Er hatte etwas geschaffen, an dessen Vollendung sich die größten Geister seit Jahrhunderten vergeblich versucht hatten, und dass sie lief und lief und lief, daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen.
    Verzweiflung: Dennoch war sein Perpetuum mobile Betrug. Sie schöpfte nicht aus sich selbst, sie erzeugte ihre Arbeitsenergie nicht selbst. Heinrich spürte ein Knurren in seiner Kehle, er fühlte sich wie ein Hund, zugleich ängstlich und bereit zum Angriff. Wer war sie? Woher nahm sie ihre Kraft, was war ihre Quelle, wo befand sich die Innenseite der Welt, das rätselhafte Dahinter, aus dem sie sich speiste?
    Triumph: Diese Quelle. Sie war unerschöpflich. Sie lief und lief.
    Verzweiflung: Nur war nicht einmal sie seine eigene Entdeckung. Hätte er nicht jene Zeichnung gefunden, hingekritzelt auf die Seitenränder eines alten Buches, das Regenmacher ihm aus einer aufgelösten Bibliothek mitgebracht hatte, er wäre nie auf die Quelle gestoßen. Ein veraltetes, wertloses Fachbuch, das er beinahe ungelesen dem Kaminfeuer zu fressen gegeben hätte. Heinrich war ein Betrüger. Ein Hochstapler. Wie alle Erbauer eines Perpetuum mobile vor ihm es gewesen waren.
    Und dann doch wieder Triumph: Sie lief. Und lief. Und lief.
    Wie entnahm sie dem Dahinter die Energie, die den Verlust durch Reibung und Luftwiderstand ausglich? Woher nahm sie das, was über die reine Betriebsenergie hinausging? Aus welchem Stoff bestand die unsichtbare Quelle? Wer war der Mann gewesen, der sie gekannt und den Bauplan aufgezeichnet hatte?
    Heinrich erschauerte, als Putz und Mörtel durch den metallenen Schutzkäfig herabprasselten, der die Maschine umgab. Binnen Sekunden zerrieb die Walze die Brocken zu Mehl. Wenn die Maschine sich losriss, wenn die eisernen Bolzen in Decke und Boden sich durch die fortgesetzten Erschütterungen lösten, wenn die Decke ihrem unerbittlichen Rhythmus nicht standhielt und über ihr zusammenstürzte … Heinrichs Blick zuckte hinauf. Die Risse im Putz, zunächst nur zarte Rinnsale, hatten sich mittlerweile zu einem verzweigten Flussdelta ausgeweitet. Doch die Maschine musste weiterlaufen. Er würde sie nicht unterbrechen, er konnte es nicht wagen – nicht bevor er einen fachkundigen Zeugen hatte. Er musste nach Regenmacher schicken lassen. Regenmacher würde dafür sorgen, dass die Maschine Kinder bekam. Millionen Kinder auf der ganzen Welt.

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    E igentlich hätten Straßenbahnen, Pferdewagen, Automobile in alle Richtungen wimmeln sollen, bissig, lustig und laut, eine immerzu lärmende Metropole, mit weiten Promenaden, glitzernden Lichtern, voller Selbstbewusstsein und Vertrauen in eine glänzende Zukunft. So zumindest hatte Charlie Jackson sich Berlin vorgestellt.
    Doch seit er hier angekommen war, hatte er
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