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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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nicht blicken lassen, die ganzen Jahre nicht ein einziges Mal. Wir alle, auch Craig, haben sie erst auf dem Cull wiedergesehen, im vorletzten August. Und jetzt mal ganz abgesehen davon: Craig und Grace haben eine glückliche Ehe geführt. Na ja. Die Geschmäcker sind verschieden. Grace ist vielleicht nicht gerade der Stern am Abendhimmel. Aber die beiden haben auf der Straße Händchen gehalten, die liebten sich. Ich hab’s mir immer so erklärt, dass Craig die Schönheit ja auch nicht gerade gepachtet …« MacLeod schaute Jensen starr in die Augen und sagte dann langsam: »Er sah gut aus. Aber … Lea hatte nichts mit ihm. Das will ich damit nur sagen.«
    Jensen schwieg. Er hatte sich vor MacLeod zum Bittsteller erniedrigt, der nun den Bescheid erhielt, dass ihm Gnade gewährt worden war. Lea und Craig hatten keine Möglichkeit gehabt, sich zu treffen. Es klang plausibel, aber es erleichterte ihn nicht, sondern beschämte ihn, als hätte MacLeod ihm eine Münze in den Becher geworfen.
    »Ja. So ist das«, sagte MacLeod. »Und was werden Sie jetzt tun, wenn ich fragen darf?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie haben das Zimmer für drei Nächte gebucht. Das sind drei Tage, in denen Sie hier rumlaufen.« MacLeod beugte sich über den Schreibtisch. »Stellen Sie sich mal vor, Sie begegnen auf der Straße zufällig Grace. Craigs Witwe. Oder irgendeinem, der auf dem Cull damals dabei war. Es hat sich ja schon rumgesprochen, dass es da in Deutschland einen gibt, der aussieht wie Craig. Aber es zu wissen und dem Gespenst dann hier zu begegnen, das sind zwei Paar Schuhe. Meine Pumpe hat vorhin fast gestreikt, als ich Sie sah. Sie sind natürlich kein Gespenst. Sie sind ein netter Kerl, und Sie sind mein Gast. Aber die anderen werden das nicht so sehen. Die sehen einen Toten. Und dann kommt das alles wieder ins Gerede. Craigs Unfall. Das wird alles wieder aufgewärmt. Man soll die Toten ruhen lassen. Das ist wirklich das Beste.« MacLeod lehnte sich erschöpft im Stuhl zurück. Er atmete lange aus.
    »Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, sagte er. »Sie bleiben bis zu Ihrer Abreise auf Ihrem Zimmer, und ich zeig Ihnen, was schottische Gastfreundschaft ist. Sie kriegen das Essen aufs Zimmer geliefert. Es kostet Sie keinen Penny. Das geht aufs Haus. Sie kriegen einen Fernseher. Einen DVD-Player. Was Sie wollen. Bier, Whiskey, alles geht aufs Haus. Seien Sie mein Gast. Sie bezahlen nur den Zimmerpreis, alle Extras gehen auf mich.«
    MacLeod streckte Jensen die Hand hin.
    »Mir reicht ein Handschlag«, sagte er.

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    26
    J ENSEN FÜHLTE SICH IN eine dumpfe Schwingung versetzt, eine stumpfsinnige Pendelbewegung, aus der es keinen Ausweg gab. David hatte einen Fernseher auf den Tisch gewuchtet, und Jensen saß auf der Bettkante und betrachtete seine Spiegelung auf dem Bildschirm.
    Es war alles geklärt.
    MacLeods Worte hatten Gewicht. Er war Hotelbesitzer, auf einer kleinen Insel. Er saß, was Gerüchte betraf, an der Quelle, brauchte bloß den Männern zuzuhören, die sich abends in seiner Bar versammelten, um sich den Mund zu zerreißen über alles Abweichende. MacLeods Ohr war eine Anlaufstelle für die Verdächtigungen und Verleumdungen, mit denen man sich in langen Inselnächten die Zeit vertrieb. MacLeod wusste Bescheid. Craig konnte sich mit Lea nicht heimlich treffen, denn da waren Augen und Ohren zwischen ihnen und eine Überfahrt, man hätte Craig auf der Fähre gesehen, schon am Hafen wäre er einem Nachbarn aufgefallen, er hätte das Festlandufer nicht erreichen können, ohne dass sie zu Hause schon spekulierten, was er dort wohl vorhatte.
    Der Wind heulte durch die Fensterritzen.
    Und doch hat sie ihn gezeichnet, dachte Jensen.
    Das alte Papier war sein Schwurzeuge. Dieses gelbstichige, fleckige Papier steckte zwischen ihm und Lea und bot dieser kalten Hitze, die er in sich spürte, ständige Nahrung.
    »Zimmerservice«, sagte David vorhin, es klang als habe er sich das Wort für einen Tag ausgeliehen. Er stellte eine Flasche Whiskey neben den Fernseher.
    Jensen stand vom Bett auf, schraubte den Verschluss von der Whiskeyflasche und trank einen Schluck. Er war barfuß und spürte zwischen den Zehen die Florfäden des Teppichs, auf dem er nicht als Erster mit nackten Füßen stand. Er zog Socken an und fühlte sich jetzt sauberer. Im Sessel trank er den zweiten Schluck, und wie angeworfen bekam er Sodbrennen. Er vertrug Spirituosen nicht.
    Mit der Liebe ging es ihm vielleicht
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