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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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1 . Kraftvermessung
    Kann es nicht sein, dass das Wissen um die Grenzen dessen,
was der Mensch ertragen kann oder was er nur mit den größten
Schwierigkeiten ertragen kann, oder wie seine Fähigkeit, das zu
ertragen, beeinträchtigt wird – kann es nicht sein, dass dieses Wissen
einen Ausgangspunkt für uns darstellt, die Lebensumstände,
ja das Leben selbst zu verbessern?
K. M ENNINGER 1
    Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendeine Berufsgruppe medial als hochprozentig gestresst, reif für die Insel sprich für die Berufsunfähigkeitspension, zumindest aber Burn-out-gefährdet geoutet wird. 2 Auf den Gesundheitsseiten der gleichen Medien finden sich dann einschlägige Expertentipps sowie Erholungsangebote von Wellness-Hotels, neuerdings diskret verschränkt in Kombination mit Reha-Aufenthalten für Suchterkrankte – weil keiner wissen soll, zu welcher Kategorie von Gästen jemand zählt. Die Vernetzung der beiden Zielgruppen wäre wohl wünschenswert, stellen sie doch jüngere und ältere Geschwister desselben Elternpaares dar.
    Das Elternpaar heißt Überforderung und Energiemangel.
    Ihr Erziehungsstil heißt Angstmache und Unterwerfungsgebot.
    Auch die ausufernde Werbung für eine Art Verjüngungsservice im Gesundheitstempel – einschließlich Trivialkopien antiker Tempelprostitution – folgt diesem Indoktrinationsmuster: Der gezielten Verängstigung dienen die laufenden Bilder von »young and beautiful people« im abendlichen Werbefernsehen genauso wie der permanent am Laufen gehaltene sogenannte Mainstream, der sich aus der Themenwahl wie aus der Präsentation der zugehörigen »Celebrities« speist.
    Man bräuchte eigentlich nur kritisch zu beobachten, welche Personen mit welchen Botschaften der öffentlichen Aufmerksamkeit als Leitfiguren angeboten werden: Meist sind es etablierte, pensionierte Männer, die sich mit einer Frau im Tochteralter Babies »anschaffen« und nun »alte Werte« bejubeln, für die sie sich in jungen Jahren keine Zeit genommen haben, aus welchen Gründen auch immer – Karrieresucht, Konkurrenzängste, Zeitmangel oder auch Unreife. Es wäre falsch, nur die Langeweile der Unterbeschäftigung, die Angst vor dem Vergessenwerden oder Torschlusspanik als Anstoß zur Umkehr zu sehen. Das Lebensende vor Augen wollen viele das Rad der Zeit zurückdrehen, kosmetisch oder ideologisch, und sich zum Mahner für die anderen, mit denen sie nicht mehr mithalten können, aufschwingen.
    Was dabei vergessen wird, ist, dass dies der Luxus einer gesellschaftlichen Minderheit ist, deren Stars medial als Werbeträger für allerlei Produkte promotet werden. In einer Zeit, in der die Mehrheit der Menschen in Mitteleuropa um ihre Existenz bangt, prekäre Arbeitsverhältnisse zunehmen und die Entsolidarisierung progressiv fortschreitet, treffen solche Vorgaukeleien vom einsamen Glückesschmied wie von der »guten alten Zeit« auf willige Gläubige: Wenn es der oder die geschafft hat, muss ich es doch auch schaffen. Man schaut nur mehr auf sich und phantasiert persönliches Wachstum und Aufstieg und achtet nicht auf die sozialen Rahmenbedingungen.
    Wenn man diese Medienvorbilder nachfolgend mit dem Alltagsleben von Alltagspersonen vergleicht, lässt sich leicht erkennen, dass auf diese Weise künstlich Unzulänglichkeitsgefühle und damit Kompensationsbedürfnisse geweckt werden sollen. Zur Mängelbehebung bieten sich dann subtil angebotene Produkte und Dienstleistungen an, legale wie illegale Drogen sowie Eingriffe in Körper, Seele inbegriffen. Die Ratgeberliteratur boomt, Fachleute aus Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie konkurrieren um Marktanteile und versprechen Heilung von allen Übeln, ewige Glückseligkeit inklusive.
    Die versprochene »Anleitung zum Glücklichsein« ist ein Verkaufsschlager geworden, besonders wenn die sogenannten Schönen und Reichen sich als Wissende oder gar Vorbilder anpreisen – diejenigen, die so fernab der Alltagslasten und abgeschirmt von Forderungen, ihr eigenes Leben kontrollieren zu lassen, in ihren Villen thronen und nur ab und zu von ihrem Personal oder aus seelentrostsuchenden Zuschriften vom Leben »da draußen« und »da unten« etwas erfahren.
    Wer trotz Lektüre und gläubiger Nachahmung noch immer nicht vor Glück strotzt, ist selbst schuld, wird dann angedeutet, soll er oder sie sich halt eine Familie zulegen und aus Kinderaugen Glück »ziehen«. Nur: Wo aufbauwillige Partnerpersonen finden, mit denen dauerhafter Austausch gelingen könnte, wenn
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