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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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ähnlich. Warum glaubte er Lea und MacLeod nicht einfach? Er drehte sein Misstrauen um, die Spitze richtete sich jetzt gegen ihn. Vielleicht wollte er Lea gar nicht lieben.
    Der Regen prasselte ans Fenster. Ein kleines, gelbes Licht bewegte sich draußen in der Dunkelheit.
    Die Liebe selber war ihm unheimlich. Dass ein anderer Mensch wichtiger wurde als man selbst: was für eine Zumutung! Dass man ihm diese Bedeutung selber verlieh: welche Selbsterniedrigung! Man entthronte sich, um einen anderen über sich zu stellen, lauter Verrücktheiten aus vorrevolutionärer Zeit, Absolutismus. Freiwilliger Gang in die Abhängigkeit, radikale Veränderung der Umlaufbahn der Gedanken, die jetzt nicht mehr um einen selbst, sondern um den anderen kreisten, der aber ein fremdes, in weiten Teilen unbekanntes Wesen war, von dem man nicht wusste, ob es sich nicht von durch Zuneigung Geschwächten ernährte. Und noch schlimmer: All das war wunderbar, und um keinen Preis wollte man es wieder verlieren. Das Zentrum des Glücks war die Angst. Unter dem Strich war Liebe immer Leiden, denn dem Leben verzieh man, dass es endlich war, der Liebe nicht.
    Seine Gedanken kamen ihm vor wie überschminkt, mit Flitter bestäubt, hübsche Häschen, hoppelnd und sich selbst betrügend. Ob es um Liebe ging, war ja noch nicht entschieden. Erst einmal ging es um Eifersucht. Und es ging darum, dass er nicht anders konnte. Ihn trieb etwas an, über das er keine Kontrolle hatte, es war die dumpfe Schwingung, gespeist aus Angst, Selbstzweifeln und vielleicht einem heimlichen Hass.
    Er trank einen dritten Schluck Whiskey, einem weiteren verweigerte sich seine Kehle, indem sie schmerzhaft eng und hart wurde. Sein ganzer Körper prickelte in der Übersäuerung.
    Der Zeitpunkt war gekommen.
    Jensen brauchte etwas Flüssiges zur Verdünnung der Säure. Ein Bier. Aber nicht auf seinem Zimmer. Ein Bier in Moira MacAskills Pub.
    Nur dieses Gespräch noch, dachte er, dann fahre ich zurück nach Berlin.
    Nur mal eben ein bisschen Luft schnappen.
    Ist ja ein schöner Sturm heute.
    Ich gehe nicht weit weg, nur mal ums Haus.
    Jensen sammelte Ausreden, für den Fall, dass er MacLeod oder David begegnete. Er stieg die Treppe hinunter, die Stufen knarrten. Auf der Theke der Rezeption flackerte eine Kerze, Davids pelzbesetzte Jacke hing über dem Stuhl. Aus der Bar nebenan drangen kehlige Stimmen, Jensen machte sich aus dem Staub.
    Draußen griff ihn sich der Sturm. Der Wind überwand Jensens Wetterjacke mit Leichtigkeit, drang durch die undichten Nähte bis auf die Haut. Jensen balancierte einen Windstoß in die Flanke mit einem Gegenschritt aus. Er überquerte die Straße gegen den Widerstand des Unwetters, das mit Regen um sich warf. Die Boote im Hafen hatten heute schon viel erlebt, aber jetzt wurden die Fender auf die Probe gestellt. Es knirschte und klimperte, knatterte und heulte. Niemand war unterwegs, die Straßenlampen brannten nur für Jensen. Der Regen stob waagrecht durch ihre Lichtkegel.
    Am Ende des Hafens stand eine Telefonzelle. Jensen konnte von hier aus das George and Dragon sehen, ein Eckhaus mit einer kleinen Arkade. Er suchte im Telefonbuch die Nummer.
    »Ja?«, sagte eine Frau. »Was gibt’s?«
    »Spreche ich mit Moira MacAskill?«
    »Das bin ich.«
    »Ich werde gleich rüberkommen und möchte nicht, dass Sie erschrecken. Ich sehe Ihrem Bruder Craig sehr ähnlich.«
    »Ach Sie sind das«, sagte Moira MacAskill.
    Als Jensen die Straße zum George and Dragon überquerte, hörte er trotz der Sturmgeräusche deutlich den Dreiklang. Unter der Arkade vor dem Eingang des Pubs las er Leas Nachricht.
    Vertrau mir
    Ihre Bitte überstieg seine Fähigkeiten. Er löschte die Nachricht, um nicht an seine Mutlosigkeit erinnert zu werden, seine Angst, seine Zwergenhaftigkeit.
    Alte Sessel, zerkratzte Tische, der Geruch der Bierströme, an jeder Wand hing ein Schild mit einer rot durchgestrichenen Zigarette. Zwei junge Männer am Billardtisch, die einzigen Gäste, blickten kurz auf, und als sie sahen, dass es nur ein Fremder war und ein Mann, wandten sie sich ab, und es war zu erkennen, dass sie dem Leben keine Überraschungen mehr zutrauten und dabei waren, sich die Enttäuschung darüber abzugewöhnen.
    Moira MacAskill stand mit verschränkten Armen hinter der Theke. Sie war eine großgewachsene Frau mit langem, grauem Haar, der Tiger auf ihrem T-Shirt schnappte danach. Sie hob die Hand, und Jensen blieb stehen. Sie wandte ihren Blick ab und begann, ein Bierglas zu
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