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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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Einmal hat er das Fahrrad unseres Großvaters gezeichnet. Das war gute sechzig Jahre alt und nur noch Schrott. Und er hat’s auf Papier gezeichnet, das sechzig Jahre alt aussah. Na ja, ungefähr. Aufs Jahr genau hat er’s natürlich nicht hingekriegt. Das Meer hat er mal gezeichnet auf Papier, das er unter eine Glasscheibe legen musste, damit es nicht zerfiel. Weil das Meer so alt ist, verstehen Sie? Er konnte auf dem Papier gar nicht mehr richtig zeichnen, es riss. Es waren nur ein paar Striche drauf, und die nannte er eben Meer. So war Craig. Ich denke manchmal, er hätte nach London gehen müssen. Oder New York. Lewis war zu klein für ihn.«
    »Hat er das auch seinen Schülern beigebracht?«, fragte Jensen. »Dass man auf Papier zeichnen soll, dessen Alter dem des Motivs entspricht?«
    »Ja klar. Das war ja seine Idee. Seine Erfindung. Aber denen was beibringen? Vielleicht mit der Pistole an der Stirn. Im Zeichenunterricht wollten die nichts lernen. Da wollten sie schlafen. Es gab natürlich immer auch Ausnahmen. Aber das war selten.«
    »Ausnahmen wie Lea Murray?«
    »Ja. Zum Beispiel. Wie Lea Murray.«

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    27
    A LS ER GEGEN MITTERNACHT das George and Dragon verließ, von der Windstille in den Sturm trat, schien ihm der Sturm das bessere Angebot zu sein. Eine Rückkehr in die Ruhe seines Hotelzimmers war falsch. Er stemmte sich gegen den Wind, mit halb geschlossenen Augen, in den Regenpfützen kräuselte sich das Wasser, die ganze Insel bekam in der Nässe und Kälte eine Gänsehaut. Jensen wollte die Quelle des Windes erreichen, gegen den Strom kämpfte er sich durch die leeren Gassen, eine Mütze taumelte über das Pflaster. Die Lichter der Straßenlampen verbogen sich im Wind, eine Plastiktüte raschelte vorbei. Der Sturm bewegte die Dinge nach seinen Gesetzen, und er führte Jensen zu einem Quai gegen das offene Meer hin. Die Wellen explodierten an der Steinmauer, ein Feuerwerk der Gischt schoss hoch. Es war eine Bucht, der Sturm fand hier keinen Widerstand und raste. Quer über der Straße, die meerseits nach Norden führte, stand ein Wagen als Barrikade, das Blaulicht zuckte nervös, so als trieben das Heulen und das Tosen seinen Puls in die Höhe. Ein Mann in einem gelben Ölanzug kreuzte über dem Kopf die Arme. Jensen bezog die Warnung auf sich, es war ja außer ihm niemand hier. Aber er ließ es darauf ankommen. Er blickte aufs Meer, in eine brodelnde Dunkelheit, aus der sich Schaumkronen erhoben, in langen Linien ritten sie gegen das Ufer. Es war ein Aufstand von Wasser und Wind, ein elementarer Aufruhr, und mitten in diesem Ausbruch einer blinden und großartigen Gewalt dachte Jensen über seine Eifersucht nach, die unter den Kräften, die hier wirkten, die allergeringste war. Sie war durchaus auch eine Kraft, sie trieb ihn seit Tagen an, aber unter diesem schwarzen Himmel, der auf ganzer Front über ihm hinwegzog, wurden seine Ängste zu etwas Insektenhaftem. Dies sagte ihm sein Verstand. Seine Gefühle aber hielten die Theatralik des Sturms für die ihnen angemessene Kulisse. Die Natur tobte, weil Jensen zerrissen war. Hatte Lea ihn gezeichnet oder Craig? Er wusste es noch immer nicht, und deshalb blies der Sturm. Jensen belegte die Waagschalen. In die linke, die gute, legte er Craigs Passion für Papier und seinen Spleen, dessen Alter dem des abgebildeten Motivs anzugleichen. Lea als talentierte Zeichnerin war eine empfängliche Schülerin gewesen, deswegen das alte Papier. Vielleicht. Bewiesen war nichts, und die Indizien in der guten Waagschale wurden aufgehoben durch Craig, den Frauenhelden, Craig, den Lieblingslehrer, die Affäre in Madrid und die Aufenthalte in Berlin. Seine Frau mochte Craig geliebt haben, aber seine Leidenschaft für die Kunst und das Papier teilte sie nicht. In Lea hätte Craig eine verständigere Partnerin gefunden.
    Vertrau mir
    Aber vertrauen, nur weil einem nichts anderes übrig blieb? Weil man die Wahrheit nicht kannte? Annick schwebte wie ein schwarzes, mit dem Wind verbündetes Gespenst über dem Meer. Der Saum ihres Umhangs flatterte in alle Ewigkeit.
    »He!«
    Mit schweren, weiten Schritten kam der Mann im Ölanzug auf Jensen zu.
    »Zurück!«, rief er, er ruderte mit dem Arm. »Zurück! Hier ist’s gefährlich!«
    Es war ein Polizist, wie Jensen jetzt erkannte.
    Jensen entfernte sich ein paar Schritte von der Mauer.
    »Die Straße ist gesperrt«, sagte der Polizist. »Sie sollten hier nicht rumstehen. Das kann ins Auge gehen.«
    »Wegen den Wellen?«,
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