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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester!
Autoren: Lois Duncan
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EINS
    ICH HEISSE LAURIE STRATTON , bin siebzehn Jahre alt und wohne in Cliff House auf der Nordspitze von Brighton Island.
    Meine Eltern sind mit mir hierhergezogen, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater schreibt Science-Fiction-Romane und meine Mutter ist Künstlerin. Dieses eher ungewöhnliche Leben passt also ganz gut zu ihnen. Unser Haus haben sie von den Erben der Familie Brighton gekauft, der früher einmal die ganze Insel gehört hat, und es nach ihren Bedürfnissen umbauen lassen. Mal abgesehen von einem gelegentlichen Ausflug ins Dorf, um Lebensmittel zu holen oder die Post, verlassen meine Eltern das Haus nur selten und die Insel so gut wie nie.
    Â»Warum sollten wir zurück ins Hamsterrad auf dem Festland«, sagt Dad, »wir haben hier doch alles, was wir brauchen.«
    Es hat einmal eine Zeit gegeben, da habe ich Cliff House auch geliebt. Es hockt auf einem Felsvorsprung, der ins Meer hinausragt, und vom Balkon meines Zimmers kann ich in die Unendlichkeit schauen. Im Sommer ist der Himmel so strahlend blau wie auf Leinwand gemalt, die Farbe des Wassers changiert von hell- zu dunkelblau, aquamarin und smaragdgrün. Im Sommer ist es toll auf der Insel. In den kleinen Häusern auf der Südseite wohnen Feriengäste, der Jachtklub veranstaltet Segelregatten und der Tennisklub Turniere, Studenten von Harvard, Yale und Princeton überschwemmen die Insel und streiten sich um die Jobs als Rettungsschwimmer. Im Brighton Inn gibt’s jedes Wochenende Live-Musik, man kann also auch tanzen gehen, auf den Straßen wimmelt es von Radfahrern, an den Stränden picknicken jede Menge Leute. Lachen und der süße Geruch von Sonnencreme zieht mit der warmen Brise übers Land.
    Im Winter verändert sich die Szenerie. Das Grau rückt an und mit ihm die Kälte. Dann haben wir die Insel wieder für uns, meine Familie und ich und die Leute im Dorf.
    Die Leute aus dem Dorf haben unserem Haus seinen Namen gegeben. Wenn man vom Dorf aus über die Bucht schaut, sieht man es wie einen Auswuchs der Klippe, auf der es steht, in den Himmel ragen. Die Brightons haben das Haus so bauen lassen, dass jedes Zimmer, egal, wie klein es ist, ein Fenster mit Meerblick hat. Das Atelier meiner Mutter liegt ganz oben im Haus und wird von Nordlicht durchflutet, das Büro meines Vaters geht unten von der Küche ab. Auf der mittleren Ebene liegt ein riesiges Wohnzimmer mit jeder Menge Deckenbalken und einem mit Feldsteinen ummauerten Kamin. Die drei Schlafzimmer klettern wie Treppenstufen versetzt an der Seite des Hauses hoch, sie schmiegen sich richtig an die Klippe. Das oberste Zimmer ist meins, darunter liegt das meiner Eltern, und das dritte hätte eigentlich das Gästezimmer werden sollen, für die Agenten und Lektoren aus New York, aber jetzt gehört es meinen kleinen Geschwistern.
    Â»Wenn wir gewusst hätten, dass sie kommen, hätten wir uns anders eingerichtet«, sagt meine Mom immer mit einem Lachen, denn eigentlich hätte ich ein Einzelkind bleiben sollen.
    Und nun lebe ich also mit meinen Eltern, meinem elfjährigen Bruder Neal und meiner achtjährigen Schwester Megan in Cliff House.
    Und da gibt es noch jemanden.
    Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, aber ich weiß, dass sie da ist. Nachts im Bett, wenn die Wellen sich an den Felsen unter meinem Fenster brechen, höre ich so ein ganz schwaches Rascheln, wenn sie den Flur entlanggeht. Sie bewegt sich leise, doch ich höre sie, weil ich an ihre Geräusche gewöhnt bin.
    Sie bleibt vor meiner Tür stehen.
    In meinen Träumen höre ich ihre Stimme. Aber sind das überhaupt Träume? Oder ist ihre Stimme in den Monaten, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, vielleicht so schwach geworden, dass sie mich nur noch auf diese Weise erreichen kann?
    Du bist schuld , flüstert sie. Du allein .
    Ich habe keine Angst mehr vor ihr, aber ihre Anwesenheit hier stört mich. Nicht mal die Schönheit des Ozeans kann mich darüber hinwegtrösten. Ich stehe am Fenster und schaue hinaus auf die sonnengesprenkelten Wellen des sommerlichen Meeres und ziehe die Schultern hoch, als müsste ich mich vor einem eisigen Wind schützen.
    Meine Eltern machen sich Sorgen um mich. Sie verstehen nicht, was passiert ist. Von den drei Personen, mit denen ich darüber reden könnte, sind zwei nicht mehr da und die dritte ist noch sehr jung.
    Ich werde auch bald gehen. Deshalb
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