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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger
Autoren: Tania Carver
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1 Er öffnete die Augen. Stand langsam auf. Er hatte Schmerzen. Alles tat weh.
    Er sah sich lange und gründlich um. Was er jetzt brauchte, war klar.
    Eine Waffe.
    Er wusste auch, wo er eine finden konnte. Eine Bockflinte. Eigentlich war sie zum Trap- und Hasenschießen gedacht.
    Aber nicht heute.
    Der verschlossene Schrank, in dem sie aufbewahrt wurde, war leicht zu öffnen. Er nahm die Flinte heraus und ließ einen Moment lang ihre Schwere auf sich wirken, wie um zu prüfen, ob ihr Gewicht dem gerecht wurde, was die Waffe anzurichten imstande war.
    Beziehungsweise, was sie bereits angerichtet hatte.
    Er hob den Kopf und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Das Haus war komplett verwüstet. Die Möbel waren alle mit großer Sorgfalt platziert und regelmäßig gereinigt worden. Er wusste noch genau, was für Ärger er als Kind immer bekommen hatte, wenn er auf den Sofas gespielt hatte. Die Antiquitäten waren tabu. Er durfte sie nicht anrühren, sonst blühte ihm was. Eine seiner frühesten Erinnerungen an das Leben in diesem Haus war, mit welchen Mitteln man ihm die Konsequenzen eines solchen Fehlverhaltens eingebläut hatte. Er hatte in ständiger Furcht gelebt. Jedes Mal, wenn er so unvorsichtig gewesen war, eine Vase oder Porzellanfigur auch nur versehentlich mit den Fingern zu streifen, war er am Abend stets in schrecklicher Angst vor einer grausamen, wenngleich noch unbekannten Strafe zu Bett gegangen.
    Doch all das hatte jetzt ein Ende. Was blieb, war ein Gemetzel.
    Schränke und Tische waren umgestürzt, die Glastüren der Vitrinen eingeschlagen, Polster aufgerissen. Überreste zertrümmerter Antiquitäten bedeckten die Fußböden jedes Zimmers wie ein Teppich aus scharfen Splittern.
    Plötzlich zog etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. In einer Ecke stand, völlig unversehrt, eine Vase auf einem Sockel. Das letzte heile Stück im ganzen Haus. Er ging hin, streckte die Hand nach der Vase aus und berührte sie sanft. Liebkoste sie, streichelte sie, als wäre sie ein kostbares Erinnerungsstück aus vergangenen Tagen. Aus seinem alten Leben. Doch er hatte die Bockflinte vergessen, die er noch immer in der Armbeuge hielt. Eine unbedachte Bewegung, und der Lauf der Flinte stieß gegen die Vase. Diese stürzte um und zersprang auf dem Parkett in tausend kleine Scherben. Das Geräusch war so laut, dass ihm die Ohren davon klingelten.
    Hastig wich er zurück. Porzellan knirschte unter seinen Schuhen. Abermals stieg die alte Todesangst seiner Kindheit in ihm hoch. Irgendjemand, irgendetwas würde kommen und ihn dafür bestrafen. Auf die eine oder andere Weise würde er büßen müssen.
    Er drehte sich um und floh aus dem Zimmer. Er sehnte sich verzweifelt nach Ruhe. Nach Frieden.
    Doch in den anderen Räumen erwartete ihn derselbe Anblick. Dasselbe Gemetzel, dieselbe Zerstörung.
    Und die Leichen.
    Ihnen hatte er sich bislang nicht zu nähern gewagt. Er hatte Angst gehabt, sie anzuschauen. Hatte ihre Existenz ausgeblendet. Weil er sie kannte. Weil er wusste, wer diese Menschen waren. Falsch: wer sie gewesen waren. Der Mann, zu dem er Vater gesagt hatte. Das Mädchen, zu dem er Schwester gesagt hatte. Der Junge, zu dem er Bruder gesagt hatte. Und seine Mutter.
    Seine Mutter …
    Jetzt waren sie keine Menschen mehr, nur noch Abfälle in einem stinkenden Schlachthaus. Ihr Blut und ihre Eingeweide waren über Wände, Decken und Fußböden geschmiert. Er konnte ihren Weg von Zimmer zu Zimmer nachverfolgen, ihre panische Flucht vor dem Gewehr. Sie waren um ihr Leben gerannt. Hatten geschrien. Hatten Vasen und Schalen und Teller geschleudert – kostbare Stücke, im Laufe vieler Jahre gesammelt. Hatten gehört, wie sie zerbrachen. Sie hatten Sofas und Chaiselongues umgestürzt, um sich dahinter zu verstecken, obwohl sie doch genau gewusst haben mussten, dass all ihr Tun vergeblich wäre – dass sie das Unvermeidliche nicht würden abwenden können. Der Lauf der Flinte würde sich auf sie richten, feuern und sie in Stücke reißen.
    Die Menschen, die er aus Gewohnheit als seine Familie bezeichnet hatte.
    Er war plötzlich müde, wie nach einem Adrenalinrausch. Er gähnte. Die Flinte kam ihm vor wie ein dritter, schwerer Arm. Oder ein schlafender Säugling. Er wanderte ziellos im Haus umher. Seine Augen sahen alles und nichts.
    Seine Mutter.
    Seine Mutter …
    Die Treppe hinauf und wieder hinunter. Durch jedes Zimmer. Wieder und wieder. Nichts änderte sich. Nirgendwo regte sich etwas. Draußen dämmerte es bereits.
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