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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger
Autoren: Tania Carver
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jemand auf sie zugerannt kam. Auch das ignorierte sie. Sie hatte nur das Cottage vor Augen. Ihre ganze Welt schrumpfte auf diese brennende Ruine zusammen. Sie musste ihre Familie retten.
    Sie war fast bei dem fremden Wagen angelangt, als jemand von hinten nach ihr griff.
    »Kommen Sie da weg! Sind Sie wahnsinnig?«
    Sie schüttelte die Hände ab und stolperte weiter. Erneut wurde sie gepackt.
    »Das ist viel zu gefährlich, wollen Sie sich umbringen? Jetzt kommen Sie schon …«
    Hände zerrten sie zurück, hinderten sie am Weitergehen, hielten sie von ihrer Familie fern.
    Als sie sich zu befreien versuchte, wurde sie nur noch fester gepackt.
    »Bitte, bleiben Sie zurück … seien Sie doch vernünftig …«
    Verzweiflung und Adrenalin verliehen ihr Kraft. Sie drehte sich um, sah einen Mann etwa in ihrem Alter, der sie voller Sorge und Angst musterte, während er sie an den Schultern festhielt. Sie entwand sich seinem Griff.
    Als sie am Wagen vorbeikam, spürte sie die Hitze des Feuers am ganzen Körper. Es war so hell, dass sie die Augen schließen musste, und so heiß, dass sie das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu laufen. Durch zusammengekniffene Augen spähte sie in die Flammen und versuchte etwas zu erkennen. Alles flimmerte in den Hitzeschwaden.
    Erneut hörte sie die Stimme des Mannes hinter sich.
    »Kommen Sie da weg! Das Auto kann jeden –«
    Sie spürte Hände auf ihrem Körper, dann wurde sie grob zu Boden geworfen. Plötzlich eine sengende Hitze, als würde sie in eine kleine Sonne hineinstürzen, und ein lauter Knall, von dem ihr fast das Trommelfell riss.
    Dann nichts mehr.
    Nur Schwärze.
    4 Er hatte seine eigenen Gardinen bekommen. Immerhin etwas. Gardinen und ein Fenster. Aber ohne Aussicht. Das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen.
    Trotzdem hielt ihn das nicht davon ab, aus dem Fenster zu starren. Er starrte aus dem Fenster, und dabei dachte er nach. An manchen Tagen tat er nichts anderes, weil es nichts anderes zu tun gab. Bloß starren und denken. Viel war da draußen nicht zu sehen. Manchmal zählte er die Tauben. Versuchte sie anhand der Zeichnung ihres Federkleids auseinanderzuhalten. Er vermenschlichte sie sogar, indem er ihnen Namen gab und unterschiedliche Charaktereigenschaften zuwies. Wenn es so weit war, wusste er, dass er zu lange aus dem Fenster gestarrt hatte. Als Nächstes würde er ihnen in Gedanken kleine Westen anziehen. Also setzte er sich stattdessen aufs Bett und richtete den Blick nicht mehr nach außen, sondern nach innen.
    Er dachte über Dinge nach, die er in Büchern gelesen hatte. Über die Notizen, die er mit Bleistift auf die Seitenränder gekritzelt hatte. Die Bücher standen jetzt unberührt auf seinem Regalbrett. Er nahm sie nicht mehr oft herunter. Er hatte sie schon so häufig aufgeschlagen, dass er die Stellen, die ihm gefielen, auswendig kannte. Die wichtigen Stellen.
    Etwas, worüber er sehr oft nachdachte, war die Zeit. Sie beschäftigte ihn ständig, und er hatte jede Menge Bücher mit allen möglichen Theorien darüber gelesen. Dass sie nicht in einer geraden Linie verlief, sondern sich dehnen und krümmen konnte. Dass sie einem manchmal kurz erschien, aber in Wirklichkeit lang war. Dass sie Schleifen machte. Dass sie die Fähigkeit besaß, einen auszutricksen, so dass man dachte, sie sei das eine, obwohl sie in Wahrheit etwas ganz anderes war.
    Er wandte das Gelesene auf sein eigenes Leben und seine Situation an: dass die Zeit ihm kurz vorkam, obwohl sie lang war. Nein – an den meisten Tagen war es umgekehrt: Sie kam ihm lang vor, war in Wirklichkeit aber kurz. Nein, nicht an den meisten, an allen Tagen. Und in allen Nächten. Die Nächte waren noch schlimmer als die Tage.
    Weil er immer und immer wieder denselben Traum hatte. Schon seit Jahren. Seit er hierhergekommen war. Er träumte seinen eigenen Tod. Und es war jedes Mal ein langsamer, qualvoller Tod. Krebs, MS , Aids oder Ähnliches. Irgendeine Krankheit, die sich nicht aufhalten ließ, für die es keine Heilung gab. Sein Körper schrumpfte Stück um Stück zusammen, bis er zu einem Käfig wurde, in dem er gefangen war. Manchmal verschwand alles, und nur noch seine Stimme blieb zurück. Eine jämmerliche piepsende Stimme, die stumme Schreie ausstieß. Unbeachtet. Ungehört.
    Nach dem Aufwachen war der Traum immer noch ganz real. Er hing so fest an ihm, dass er dachte, er sei tatsächlich tot. Er musste sich jedes Mal zu der Einsicht zwingen, dass er noch lebte. Er lag dann im Dunkeln,
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