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Brans Reise

Titel: Brans Reise
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Beravs Wille
     
    F unken fliegen wie fallende Sterne durch die Dunkelheit. Im Schein des Lichts sieht man einen Flintstein, die Finger, die ihn halten, und den Rand einer Schwertklinge. Zweimal schlagen die Finger den Stein gegen die Klinge, ehe die Flammen aus dem faustgroßen Bündel trockener Zweige auflodern. Licht breitet sich um das Feuer herum aus, vertreibt die Dunkelheit und erhellt zwei Gestalten, einen Jungen mit schmalen Schultern in einem wollenen Umhang und einen alten Mann mit grauem Bart und rundem Bauch, auf dessen wettergegerbtes Gesicht die Flammen flackernde Schatten werfen. Er steckt sein Schwert in die Scheide an seinem Gürtel und starrt ins Feuer.
    »Geschichten…«, murmelt er. »Von vergangenen Zeiten. Von Männern, Ländern, Frauen und Göttern.«
    Sein grauer Bart kratzt über die Brust, als er vor dem Feuer niederkniet. »Shian.« Er winkt den Jungen zu sich. »Hol mir die Fackel.«
    Der Junge dreht sich um und hebt etwas auf, das außerhalb des Feuerscheins auf dem steinigen Boden liegt. Er reicht die Birkenfackel dem Alten, der sie über die verlöschenden Flammen hält. Die Fackel fängt Feuer, und der Mann mit dem grauen Bart stützt sich mit einer Hand auf den Knien ab und erhebt sich.
    »Shian«, stöhnt er, »nimm die Fackel.«
    Der Bärtige krümmt seinen Rücken und ringt nach Atem, bevor der Husten seinen Körper erschüttert. Der Junge packt die Fackel und dreht sie hin und her, so dass die Birkenrinde überall Feuer fängt. Er wirft den wollenen Umhang über die Schultern nach hinten und sieht nach dem Alten, der sich mit dem Ärmel seines blauen Hemdes den Mund abwischt und sich vom Licht abwendet.
    »Komm her, Shian. Leuchte für mich.« Er gibt dem Jungen ein Zeichen, ihm zu folgen. Gleich darauf ist eine niedrige, überhängende Felswand zu erkennen, die sich wie ein gebogenes Dach über sie neigt. Der Junge hält die Fackel dicht an die Felswand und zahllose Figuren kommen zum Vorschein, einige in den Fels gemeißelt, andere mit Kohle aufgemalt.
    »Hier ist es.« Der Alte fährt mit dem Zeigefinger über einen eingeritzten Kreis. »Hier ist unsere Geschichte. Seit dem Tag, an dem wir hierher gekommen sind, haben wir unsere Erinnerungen in diese Felswand geritzt.«
    Der Junge kneift die Augen zusammen und starrt die Wand an. »Steht hier auch was von Ber-Mar?«
    Der Alte lacht und fährt ihm mit der Hand durch die Haare. »Ja, und auch von anderen Orten, die noch viel weiter entfernt sind, Shian. Die ersten Zeichen beschreiben die Zeit, in der wir an einem anderen Ort gelebt haben, in einer Felsenburg im Osten.«
    Er nimmt die Fackel und leuchtet die Felswand an, wobei er ein wenig zur Seite geht.
    »Hier«, sagt er hustend und deutet auf etwas, das wie ein Mann mit Flügeln aussieht. »Das sind die ersten Zeichen. Sie erzählen vom Vogelmann. Er lebte, als Noj Häuptling war.«
    »Vogelmann? Hatte der Federn?« Der Junge kratzt mit seinem Finger an den Kerben im Fels und neigt den Kopf zur Seite.
    »Das hatte er, Shian. Und er war ein Seher. Er war es, der unser Volk gewarnt und uns aufgefordert hat, uns ein neues Land zu suchen.«
    »Ein Seher?« Der Junge verschränkt die Arme vor der Brust. »Vater sagt, es gibt keine Seher. Das sind Lügner, wenn sie behaupten, in die Zukunft schauen zu können! So sagt er.«
    Der Alte beugt sich hinunter, so dass das Licht der Fackel sein Gesicht erhellt. Der Feuerschein tanzt über seine faltige Stirn, doch seine Augen liegen unter den buschigen Augenbrauen im Schatten.
    »Konvai, dein Vater, hat einfach keinen Glauben«, murmelt er. »Manchmal wundere ich mich darüber, denn als er noch ein Kind war, haben Gwen und ich ihm oft von der alten Zeit erzählt, von all dem, was geschehen ist, ehe wir hierher in dieses Tal kamen. Doch seine Augen richten sich auf die Bäume und die Erde, und seine Füße stehen fest auf dem Boden. Deshalb muss ich, der Vater deines Vaters, dir all das erzählen, Shian. Und ich weiß, dass es wahr ist, was die Zeichen hier oben sagen. Der Vogelmann konnte in die Zukunft schauen!«
    Shian wirft den Kopf in den Nacken und sieht mit einem Grinsen auf den Lippen zur Seite. Er ist jetzt in dem schwierigen Alter, denkt der Alte, und ärgert sich, dass er es auf sich genommen hat, dem Jungen von der großen Reise zu erzählen.
    »Dann erzähl mir doch von dem Vogelmann, wenn er ein so guter Seher war!« Widerwillig schielt Shian zu der Felswand und der eingeritzten Vogelgestalt hinüber.
    Der Graubärtige
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