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Woodstock '69 - die Legende

Woodstock '69 - die Legende

Titel: Woodstock '69 - die Legende
Autoren: Frank Schaefer
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Eine Nation entfremdeter junger Leute
    Das eigentliche Festival beginnt um 17:07 Uhr mit dem schwarzen New Yorker Folk-Poeten Richie Havens. Havens kehrt gerade aus Europa zurück, wo er sein mittlerweile fünftes Album »Richard P. Havens, 1983« fertig gestellt hat. Man kennt ihn gut innerhalb der Greenwich Village Folk-Szene, als farbiger Außenseiter hat er sich hier einen ziemlichen Ruf erspielt. Außerhalb dieses Künstler-Ghettos ist er weniger bekannt, aber das ändert sich gerade. Beim zweiten Miami Pop Festival im Dezember 1968 überzeugt er geschätzte 100.000 mit seiner kargen Folk-Blues-Gospel-Melange – und jetzt soll er Woodstock eröffnen. Er sträubt sich zunächst, möchte sich nicht verheizen lassen, zudem steckt sein Bassist noch im Stau. Aber Woodstock Ventures sind spät dran, die Hügel bereits voller erwartungsfroher, amüsierwilliger Kids. Und Sweetwater, die ursprünglich beginnen sollten, lassen auf sich warten. Auch Country Joe McDonald ist zwar schon vor Ort, aber seine Band noch nicht, nicht mal sein Equipment. Tim Hardin stünde ebenfalls zur Verfügung, hat sich aber drogistisch so übermotiviert, dass John Morris und Michael Lang das Risiko nicht eingehen wollen. In den »Woodstock Diaries« sieht man einen bezeichnenden kleinen Schnipsel von Hardin mit Gitarre vorm Bauch, wie er auf der Wiese hinter der Bühne herumprobiert, klarzukommen versucht, und man versteht schon ganz gut, warum man ihm noch ein bisschen Zeit gegönnt hat. Morris und Lang brauchen jetzt schnell einen Ersatz, der ohne großen technischen Aufwand auskommt. Und da sich Havens nur mehr von einem Conga-Spieler und einem weiteren Akustik-Gitarristen begleiten lässt, pfeifen sie auf dessen Einwände und den immer noch vakanten Bassisten und schicken ihn zuerst auf die Bühne.
    Havens spielt lange, aber zwei Songs treffen wohl vor allem den Nerv dieser Versammlung. Zum einen das perkussive, dynamisch gespielte und mit merklich angerauter Kehle intonierte »Handsome Johnny«, ein Agitprop-Song von seinem dritten Album »Mixed Bag«, in dem er seinen Helden, den amerikanischen Jedermann auf all die historischen Schlachtfelder der USA schickt, Concord, Gettysburg, Dunkirk (Dünkirchen), Korea, um schließlich beim aktuellen Kriegsschauplatz zu landen:
    Hey, look yonder, tell me what you see
    Marching to the fields of Vietnam?
    It looks like Handsome Johnny with an M15
,
    Marching to the Vietnam war
,
    hey marching to the Vietnam war
.
    Ein simples, serielles Lamento, das noch dazu die unterschiedlichen Ursachen der Schlachten völlig außer Acht lässt, insofern auch die Frage nach der Legitimation von Krieg nicht stellt – mit Dünkirchen wird ja immerhin auf die entscheidende Rolle der USA im Kampf gegen den Nationalsozialismus angespielt –, ihn vielmehr zu einer unabänderlichen, schicksalhaften Naturkatastrophe verbrämt. Aber das sind interpretatorische Petitessen, die in diesem Kommunikationsrahmen, in der aktuellen Festivalsituation keine Rolle spielen. Der Song hat seine integrative, kollektivierende Wirkung nicht verfehlt, da reichen ihm schon die Schibboleths »Vietnam«, »M15«, »Marching«. Das Publikum feiert seinen ersten Künstler und mag ihn kaum wieder gehen lassen.
    In seinem anregenden Aufsatz über die »produktiven Missverständnisse«, die nötig waren, um aus dem Ereignis den Mythos »Woodstock« zu extrahieren, analysiert Diedrich Diederichsen den Auftritt von Richie Havens – neben denen von Sha Na Na und The Grateful Dead –, um die dabei ablaufenden inhaltlichen Segregations- und Filterungsprozesse vorzuführen. Havens gehört für Diederichsen eigentlich gar nicht hierher. Während die anderen beiden schwarzen Musiker des Festivals, Sly Stone und Jimi Hendrix, »eindeutig ein Crossover zur Hippie-Kultur versuchten, stand Richie Havens für eine Kultur, die in den Hippie-Kreisen außerhalb New Yorks wenig bekannt war, für die von Leuten wie den Last Poets, Cain oder Felipe Luciano vertretene Straßendichtung« mit ausdrücklich politischem Impetus. Havens habe nun deren »Form des gesprochenen, rhythmisierten Agitationsgedichts« verbunden mit »gospel-beeinflusstem Gesang und trat vor den Leuten auf, die jemand wie Cain, einer der Stammväter dieser Bewegung, ausdrücklich als Publikum ausgeschlossen wissen wollte: Weiße.«
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