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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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schreckliche Mann will.
    Ich mußte irgendwohin gehen; ich mußte wegkommen. Wenn ich nach Wien fahren würde, mußte ich mir von der alten Quelle ein wenig Geld leihen. Eigenartigerweise dachte ich sogar wieder über das Bruegel-Gemälde nach - über meine unidentifizierte Gestalt, den verirrten Bürger, und jenes aufgegebene Buch. Und ich schuldete meinen Eltern eine Wiederholung des alten Rituals. Es war besser, als zu Hause zu bleiben.
    Meine Mutter empfing mich an der Tür in der Brown Street. Sie schwallte: »Ich hab gar nicht gewußt, daß so viele Kubaner nach Nicaragua gezogen sind, und ich hab vorher gar nicht gewußt, was an HavannaZigarren so besonders ist. Ich bin froh, daß du den ausländischen Titel genommen hast - wie spricht man ›Joya de Nicaragua‹ aus? -, weil er irgendwie, na ja ... anders ist. Ich weiß bloß nicht recht, ob es überhaupt für Kinder geeignet ist, aber die Verleger wissen ja wohl, wer heutzutage was liest, nicht wahr? Dein Vater ist, glaub ich, immer noch dabei, damit fertig zu werden. Er scheint es sehr lustig zu finden; zumindest lacht er viel, wenn er liest, und ich glaube, das liest er gerade. Ich selber habe es nicht ganz so lustig gefunden - ja, irgendwie ist es vielleicht dein traurigstes Buch -, aber ich bin sicher, er hat etwas gefunden, was mir entgangen ist. Wo sind Utsch und die Kinder?«
    »In den Ferien«, sagte ich. »Alles ist bestens.«
    »Das ist es nicht, du siehst einfach fürchterlich aus«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Erzähl mir bloß nichts«, sagte sie, während sie mich, vor mir her weinend, die Halle hinunterführte. »Sprich nicht. Wir wollen zu deinem Vater gehen. Dann sprechen wir miteinander.«
    In der Höhle tüpfelte die vertraute Spätnachmittagssonne die um meinen Vater und in seinem Schoß verstreuten offenen Seiten. Sein Kopf war vertraut gesenkt, seine Hände typisch schlaff, doch als ich nach dem zwischen seinen Knien eingeklemmten Glas Scotch schaute, wußte ich sofort Bescheid. Die Knie meines Vaters waren gespreizt, und der verschüttete Scotch näßte den Läufer zu seinen Füßen, die unbequem verdreht waren - das heißt, unbequem für jemanden, der noch etwas spürte. Meine Mutter schrie bereits, und ich wußte, noch ehe ich seine kalte Wange berührte, daß mein Vater endlich mit etwas fertig geworden und daß einmal mehr das besondere Buch, das ihn in Schlaf versetzt hatte, nicht erkennbar war. Aber es hätte meins gewesen sein können.
    Nach der Beerdigung war ich bewegt davon, daß die Erholung meiner Mutter durch ihre Ängste um Utsch und mich verlangsamt schien. »Das Beste, was du im Augenblick für mich tun kannst«, sagte sie mir, »ist, sofort nach Wien zu fahren und die Probleme, die du mit Utsch hast, auszuräumen.« Meine Mutter war schon immer groß im Räumen, und es kommt schließlich selten vor, daß wir etwas für uns selber tun können, das auch jemand anderem gefällt.
    »Erinnere dich an die guten Zeiten, ist das denn so schwer?« sagte meine Mutter zu mir. »Ich dachte, ihr Schriftsteller habt angeblich ein so gutes Gedächtnis, aber ich nehme an, solche Sachen schreibst du nicht, oder? Wie auch immer, erinnere dich an die guten Zeiten; das tue ich auch. Ich glaube, wenn du erst einmal mit dem Vorgang des Erinnerns anfängst, wirst du feststellen, daß du gar nicht mehr damit aufhörst.«
    Nun denn. Ich erinnere mich - ich werde mich immer erinnern - an Severin Winter in seiner infernalischen Ringerhalle, an einem Tag, an dem wir drei ihn dort abholen sollten. Wir wollten alle über Nacht in die Stadt fahren - ein Kinobesuch und ein Hotel. (Unser erstes und letztes Hotel.) Severin sagte, er würde mit Duschen und Umziehen warten, bis wir im Hotel waren.
    »Du lieber Gott, dann wird er den ganzen Weg im Auto schwitzen«, beklagte ich mich bei Utsch.
    »Es ist sein Auto«, sagte sie.
    Edith holte uns ab. »Ich hab mich verspätet«, sagte sie. »Severin haßt es, wenn ich mich verspäte.«
    In der Nähe der Sporthalle sah ich Anthony Iacovelli durch den Schnee stapfen. Er erkannte Severins Auto und winkte.
    »Ein durchgegangener Affe in einem Winterkurort«, sagte Edith.
    Wir warteten, aber Severin tauchte nicht auf. »Gott sei Dank, wahrscheinlich duscht er«, sagte ich.
    Dann kam Tyrone Williams aus der Sporthalle, sein schwarzes Gesicht wie ein überm Schnee schwebender Kohlenmond; er kam herüber und sagte uns, daß Severin immer noch dort oben war und mit Bender rang.
    »Du lieber Gott, wir werden
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