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Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht

Titel: Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Autoren: Wolfgang Burger
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    Wie uns zum Hohn schien zu allem die Sonne.
    Ein verlogener, farbenglühender Oktobernachmittag, milde, würzige Waldluft, überall am Boden dieses schreiend bunte Laub und um mich herum eine kleine Ansammlung schwitzender Menschen, von denen keiner einen Blick für die Schönheit der Szenerie hatte. Über uns, in der Krone einer mächtigen Buche, randalierte ein Schwarm aufgekratzter Stare, die sich vermutlich über ihren Reiseweg in den Süden nicht einig wurden.
    »Und?«, fragte ich den hünenhaften Chef der Spurensicherung, der eben in weißem Schutzanzug und gelben Stiefeln den nicht allzu steilen Hang zu uns heraufstapfte. »Kann man schon irgendwas sagen?«
    Er stieß eine Mischung aus Fluch und Seufzer aus. Auch er hatte Kinder, hatte er mir vorhin im Auto erzählt. Ein Mädchen von siebzehn Jahren und einen Jungen. Der war zwölf, ein Ass im Fußball und sein großer Stolz. Bis vor wenigen Wochen hatte der Kollege, dem der Ruf vorauseilte, einer der Besten seines Fachs zu sein, noch beim Landeskriminalamt in Stuttgart gearbeitet. Seine Versetzung nach Heidelberg war ein ziemlicher Karriereknick gewesen. Dennoch hatte er im Sommer auf eigenen Wunsch zu uns gewechselt. Seine Frau, eine eingefleischte Kurpfälzerin, hatte auch nach fünfzehn Jahren im Schwabenland immer noch gefremdelt.
    »Hätte ich damals bloß auf meine Mutter gehört«, knurrte er augenrollend und wischte sich mit einem zerknüllten Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn, »und was Gescheites gelernt. Nein, man kann noch nichts sagen.«
    Etwa dreißig Meter von uns entfernt, am Fuß des Abhangs, gruben zwei seiner Männer in den gleichen weißen Anzügen vorsichtig, Schicht um Schicht den Waldboden auf. Die beiden arbeiteten wie in Zeitlupe, jede Bewegung wirkte einstudiert und tausendfach geübt, und für nicht Eingeweihte hatte das Ganze sicherlich viel Ähnlichkeit mit absurder Pantomime. Dort, wo sie gruben, war der Boden weich. Zu weich. Hin und wieder bückte sich einer von den beiden, um etwas aufzuheben, vorsichtig von loser Erde zu befreien und mit spitzen Fingern auf einer müllsackblauen Plane abzulegen.
    Es waren Knochen.
    Kleine Knochen.
    Das verschüchterte junge Paar, welches das Grab entdeckt hatte, hielt sich in meiner Nähe, als fühlte es sich hier sicherer. Der Mann rauchte Kette, seit er vor wenigen Minuten verlegen um Erlaubnis gefragt hatte. Ich hatte ihm eingeschärft, dass er hier wegen eventueller Spuren weder Asche noch Kippen verstreuen durfte. Seine kleine und ein wenig pummelige Frau zerrte an ihrer möglicherweise sogar echten Perlenkette herum, als wollte sie sich das altmodische Ding vom Hals reißen. Und natürlich musste ich bei dem Anblick an Theresa denken. Auch sie besaß ein solches Schmuckstück, ein Erbstück von irgendeiner Urgroßmutter. Wann hatte sie die eigentlich zum letzten Mal getragen?
    Schon wieder bückte sich einer der Männer dort unten. Diesmal schien es ein etwas längerer Knochen zu sein, den er aus der dunklen, fruchtbaren Erde zog. Für mich als Laien sah es nach Oberschenkel aus. Aber wer weiß schon, wie lang der Oberschenkelknochen eines Sechsjährigen ist? Die Fläche, die sie aushoben, hatte exakt die Maße eines Kindergrabs.
    Die Frau mit der Halskette wandte sich ab und erbrach sich, ohne zuvor auch nur eine Sekunde zu würgen, in einen herbstbunten Laubhaufen.
    »Passen Sie auf, dass Ihre Jacke nicht Feuer fängt«, sagte ich zu ihrem überschlanken Mann, als er seine halb gerauchte Zigarette an einem Baumstamm ausdrückte und brav in der Tasche seines grauen Leinensakkos versenkte, nur, um sich anschließend sofort eine neue anzustecken. Der zementfarbene Pudel des Paares, der vorhin eine halbe Ewigkeit lang hysterisch herumgekläfft hatte, schlief jetzt friedlich zu Füßen seines Herrchens. Der Hund war der Einzige hier, der die Sonne genoss.
    »Wenn sich Ernesto nicht so aufgeführt hätte«, stieß der Mann zwischen zwei hektischen Lungenzügen hervor, »wir hätten doch im Leben nicht gemerkt, dass da unten was ist! Wer rechnet denn auch mit so was?«
    Neben Ernesto stand ein helles Weidenkörbchen, halb voll mit Pilzen, von denen man nur hoffen konnte, dass alle essbar waren. Die Frau hörte endlich auf zu würgen. Ich reichte ihr ein Päckchen Papiertaschentücher.
    »Wann kommt denn jetzt endlich der Medizinmann?«, maulte der Chef der Spurensicherung, der sich inzwischen ebenfalls eine angesteckt hatte.
    »Professor Hültner sollte längst hier sein«,
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