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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Körper gesehen hat, ertrunken und vom Grund des Meeres gefischt. Er sieht genauso aus wie ihr eigener, deshalb ist es doppelt schrecklich. Vielleicht gibt es keinen Körper, weil Mahtab nie existiert hat. Vielleicht war sie nur Sabas eigenes Bild im Spiegel. Ist sie jetzt dort gefangen? Kann Saba das Glas mit der Faust zerschlagen und Mahtab herausziehen?
    Reza steht noch immer neben ihnen, blickt dann und wann Richtung Hauptstraße und nagt sich die Unterlippe wund. Ponneh signalisiert ihm immer wieder, er soll sich neben Saba setzen, ihr etwas Aufmerksamkeit widmen. Das ist Ponnehs Art, ihre beste Freundin zu trösten: Sie bietet Reza als Geschenk an; er ist bloß ein Junge und deshalb gut für so was. Aber Reza bleibt auf seinem Posten. »Meint ihr, der
pasdar
findet uns hier?«, fragt er und späht wieder die Gasse hinunter. Er nagt weiter an seiner Lippe und tritt nervös gegen seinen Ball, flüstert: »Iran, Iran! TOR !«
    »Aber vielleicht ist sie nicht tot«, sagt Saba, wie sie das im vergangenen Monat hundert Mal gesagt hat. Sie berührt ihren Hals, reibt ihn mit beiden Handflächen, ein neuer Tick, von dem sie weiß, dass er ihre Familie und Freunde beunruhigt. »Vielleicht ist sie mit meiner Mutter nach Amerika gegangen.«
    »Meine Maman sagt, dass deine Maman nicht nach Amerika gegangen ist«, flüstert Reza über ihnen. »Und dass sie nicht zurückkommt.«
    »Deine Maman ist eine verlogene Schlange«, kontert Saba. »Ihr werdet es schon sehen, wenn Mahtab einen Weg findet, mir einen Brief zu schreiben. Sie ist viel schlauer als ihr beide zusammen.«
    Ponneh setzt diesen betroffen-besorgten Blick auf, den sie schon mit acht Jahren tadellos beherrschte. Es ist überzeugend, sogar tröstlich, wenn Ponneh so tut, als wäre sie erwachsen. »Es wird keine Briefe geben«, sagt sie: eine Tatsache, so offensichtlich wie das blaue Meer.
    Reza verschränkt die Arme und murmelt: »Warum soll meine Mutter denn lügen?«
    »Dafür gibt’s Millionen Gründe«, sagt Saba. »Ich hab sie gesehen – alle beide –, im Flughafen. Und außerdem, Baba und ich haben Maman
selbst
hingefahren. Sie hatte einen Pass dabei, und Papiere und alles. Ponneh, das weißt du doch noch, oder?«
    Ponneh nickt und packt Sabas Hand noch fester. »Trotzdem.«
    »Genau«, sagt sie und zuckt kein bisschen, als Ponneh, die immer gern an irgendwas rumfummelt, wenn sie nervös ist, anfängt, den Lack von Sabas Fingernägeln zu kratzen. »Du glaubst mir. Ich hab sie mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht haben sie gesagt, sie ist tot, um die
pasdars
von meiner Mutter abzulenken, damit sie uns in Ruhe lassen … Wahrscheinlich hat Baba alle dafür bezahlt, dass sie lügen.« Mit dem Daumen reibt sie Schmutzflecken von ihren Schuhen, das letzte von ihrer Mutter ausgesuchte Paar, das noch passt. Nach einer Weile beschließt sie, dass alles in Ordnung ist. Mahtab wird ihr bald schreiben, und einige Tatsachen sind nun mal glasklar – der Pass, die Fahrt zum Flughafen. Die kann keiner abstreiten. Sie wischt sich übers Gesicht, atmet ein letztes Mal tief ein und zieht sich aus dem Abgrund heraus. Sie leckt sich die salzige Oberlippe und wechselt, um sich abzulenken, das Thema. »Ich hab gehört, Khanom Omidi hat vier Ehemänner, jeden in einer anderen Stadt.«
    »Nein. Im Ernst?« Ponneh blickt auf, alles Schlimme vergessen. »Woher weißt du das?«
    »Die Khanom-Hexen.« Saba zuckt die Achseln. »Die reden andauernd übereinander.«
    Die drei Khanom-Hexen, so nennt Saba die Nachbarinnen, die im Haus der Hafezis ein und aus gehen, seit ihre Mutter fort ist. Sie können Sachen, die ihr Vater nicht kann, und so sind sie zu ihren Ersatzmüttern geworden. Sie erzählen Geschichten, kochen, putzen, tratschen, und am besten ist, dass sie einander auf herrlich unterhaltsame Art hintergehen.
    Khanom Omidi, die Gute, sagt fast jeden Tag: »Ich hab eine Überraschung für dich, Saba-dschan. Eine große Überraschung. Aber nicht den anderen zeigen.« Dann kommt sie schwerfällig mit ihrem vielen überschüssigen Fleisch angestapft, in einem bunten Tschador, einem langen, weiten Gewand, das sie trägt, seit sie nicht mehr auf den Feldern arbeitet. Er verbirgt nur unzureichend ein Missgeschick, durch das ihr weißes Haar beim Färben lila-braun geworden ist. Manchmal strafft sich die alte Frau das Gesicht mit Klebeband, zum Schutz gegen Falten. Ihr Schielauge durchsucht den Vorrat an Münzen, den sie einmal in den Falten ihres Tschadors verbirgt, ein anderes Mal
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