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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Erwachsenen als Glückstag bezeichnen, weil Saba unversehrt davongekommen ist.
Von Gottes Hand gerettet
, sagen sie. Saba weiß es besser, weil sie dabei war, als
beide
Zwillinge gerettet wurden. Wieso war Mahtab so schnell verschwunden? Wieso durfte
sie
nach Amerika?
    Und was war im Wasser passiert? Sie erinnert sich daran, dass sie und Mahtab sich mitten in der Nacht aus dem Ferienhaus schlichen, um schwimmen zu gehen. Sie erinnert sich daran, dass sie in den Wellen spielten. Das halb salzige Wasser des Kaspischen Meeres kosteten. Einen Fisch vorbeischwimmen sahen. Sie erinnert sich an Häuser auf Stelzen, umhüllt von dem Nachtnebel, der davonschwebte, während sie mit ihrer Schwester weiter aufs Meer hinaustrieb. Mahtab planschte noch immer herum und sang amerikanische Lieder, während Saba das Einzige tat, zu dem sie noch in der Lage war, wenn sie Angst hatte. Sie weigerte sich, ihre Zwillingsschwester zu verlassen, auch als sie längst wusste, dass sie nur noch nach Hause wollte. Sie ließ sich auf dem Rücken treiben und erzählte Mahtab flüsternd Geschichten, und Mahtab brachte ihr vier neue englische Wörter bei, die sie in der letzten Woche gelernt hatte. Vier geheime Wörter, die Saba noch nicht kannte. Mahtab entschuldigte sich dafür, dass sie sie für sich behalten hatte, als hätte sie heimlich vier Bonbons eingesteckt, während sie ihre Portionen abzählte.
Eins für Mahtab. Eins für Saba.
    Dann erinnert sich Saba daran, dass irgendetwas sie zwang, ganz viel Salzwasser zu schlucken. Ein Moment verging, in dem sich die Küstenlinie hob und senkte, ehe die stinkigen Schmirgelpapierhände eines Fischers sie beide aus dem Meer zogen. Während der ganzen schläfrigen Bootsfahrt zurück an Land sang Mahtab alberne Lieder. Oder war das an einem anderen Tag, wie die Erwachsenen behaupten? In ihrer Erinnerung trägt Mahtab eine gelbe Fischerjacke aus Plastik wie die, die sie letztes Jahr in den Ferien verlor. Vielleicht hat sie sie im Wasser gefunden. Oder vielleicht gehörte die dem Fischer. Was passierte dann? Aufblitzende Erinnerungen an Menschen, die sich gegenseitig anschreien. Polizisten, die ihr ins Gesicht spähen. Schwarze Flecken.
    Eine Sekunde später war sie in einem Krankenhausbett in Rasht. Wo war Mahtab? Ärzte und Nachbarn wuselten um sie herum und sagten:
Keine Sorge. Mahtab geht’s gut
. Und dann, nachdem sie genug Zeit gehabt hatten, um ihre Pläne für Amerika auszuhecken, änderten sie ihre Geschichte.
    Saba merkt, dass Ponneh mit ihren schönen Mandelaugen forschend ihr Gesicht betrachtet, und sie sagt sich, dass sie tapfer sein muss. Um sich zu beruhigen, wiederholt sie Wörter aus ihrer Englisch-Liste.
    Banal. Bandit. Bandy.
    »Ich hab was geträumt«, sagt sie mehr oder weniger Richtung Wand. »Meine Maman ist in die Schule gekommen und hat mir gesagt, dass ich nicht genug Englisch gelernt hab und dass ich deshalb nicht mit Mahtab reden kann.«
    Ponneh kratzt sich die Spitze ihrer zarten Nase und schielt zu Reza hinüber. »Kommt, wir gehen Kuchen kaufen«, schlägt sie mit leicht unsicherer Stimme vor.
    Mahtab hätte nach der Bedeutung des Traums gefragt.
    »Ich glaube, das heißt, dass ich Maman wiedersehe«, sagt Saba, weil sie beschlossen hat, lieber Mahtabs Frage zu beantworten, als auf Ponnehs Vorschlag einzugehen, und blickt zu ihren Freunden hoch. Sie lächelt breit, um den beiden auch ein Lächeln abzuringen. »Und Mahtab auch«, fügt sie hinzu und lehnt den Kopf wieder an die Mauer. Sie schiebt ihr Kopftuch runter auf die Schultern und zupft sich einen losen Faden vom Pullover, während sie eine amerikanische Melodie von einer der verbotenen Musikkassetten summt, die ihr Vater jetzt duldet, da sie ein zartes, gefährdetes Etwas ist, das behutsam mit beiden Händen gehalten werden muss.
    »Lasst uns was spielen«, schlägt Ponneh vor. Als Saba nicht reagiert, wird ihr Gesicht hart. Sie setzt sich neben Saba, zieht deren Hand von dem losen Faden weg und verschränkt ihrer beider Finger miteinander. »Du solltest einfach zugeben, dass Mahtab tot ist … wie alle sagen.«
    Mahtab hätte erst hundert Möglichkeiten durchgespielt, ehe sie so eine gigantische Niederlage eingestanden hätte, vor allem eine unbewiesene. Wie können denn alle glauben, dass Mahtab tot ist, ohne ihre Leiche gesehen zu haben, ohne ein Ohr an ihre Brust gelegt und die Schläge gezählt zu haben? Manchmal wacht Saba nachts auf, die Haut wieder nass und salzig, nachdem sie in ihrem Albtraum Mahtabs
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