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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Prolog
    Dorf Cheshmeh (Provinz Gilan), Iran
Sommer
1981
    D as Folgende ist alles, was Saba Hafezi von dem Tag in Erinnerung hat, an dem ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester für immer fortflogen, vielleicht nach Amerika, vielleicht in ein noch ferneres, noch unerreichbareres Land. Wenn man sie bitten würde, zu erzählen, woran sie sich erinnert, würde sie die vielen Teile aus einem Wust von Erinnerungen zusammenstückeln, zwei laue Tage in Gilan, die irgendwo in ihrem elften Sommer schweben:
    »Wo ist Mahtab?«, fragt Saba wieder und rutscht unruhig auf der Rückbank des Autos hin und her. Ihr Vater fährt, während ihre Mutter auf dem Beifahrersitz in ihrer Handtasche herumkramt und Pässe und Flugscheine und all die Papiere zusammensucht, die erforderlich sind, um aus dem Iran rauszukommen. Saba ist schwindelig. Seit dem Abend am Strand tut ihr der Kopf weh, aber sie kann sich an kaum etwas erinnern. Sie weiß nur eines, nämlich dass ihre Zwillingsschwester Mahtab nicht da ist. Wo ist sie? Wieso ist sie nicht hier bei ihnen im Auto, wo sie doch wegfliegen und nie wiederkommen wollen?
    »Hast du die Geburtsurkunden?«, fragt ihr Vater. Seine Stimme klingt schneidend und schnell, und Saba bleibt davon die Luft weg.
Was ist los?
Sie war noch nie so lange von Mahtab getrennt – seit elf Jahren sind die Hafezi-Zwillinge eine Einheit. Keine Saba ohne Mahtab. Aber jetzt sind Tage vergangen – oder schon Wochen? Saba hat krank im Bett gelegen, und sie kann sich nicht erinnern. Sie hat nicht mit ihrer Schwester sprechen dürfen, und nun ist die Familie ohne Mahtab im Auto auf dem Weg zum Flughafen.
Was ist los?
    »Wenn ihr in Kalifornien ankommt«, sagt ihr Vater, »fahrt direkt zu Behruz. Dann ruf mich an. Ich schicke Geld.«
    »Wo ist Mahtab?«, fragt Saba wieder. »Warum ist Mahtab nicht hier?«
    »Sie trifft uns dort«, sagt ihre Mutter. »Khanom Basir fährt sie.«
    »Wieso?«, fragt Saba. Sie drückt die Stopptaste an ihrem Walkman. Es ist alles so verwirrend.
    »Saba! Hör auf!«, zischt ihre Mutter und wendet sich wieder ihrem Vater zu. Trägt sie ein grünes Kopftuch? Über diesem Teil der Erinnerung liegt ein schwarzer Fleck, aber Saba weiß noch, dass da ein grünes Kopftuch war. Ihre Mutter spricht weiter. »Was ist mit den Kontrollen? Was sag ich den
pasdars

    Die Erwähnung der Sittenpolizei macht Saba Angst. Seit zwei Jahren ist es im Iran strafbar, ein konvertierter Christ zu sein – oder irgendeine andere Form von Exmuslim –, wie die Hafezis es sind. Und es ist furchterregend, in der Welt brutaler
pasdars
mit ihren strengen Uniformen und der Mullahs mit ihren Turbanen und Gewändern ein Verbrecher zu sein.
    »Sind da
pasdars
?«, fragt sie mit bebender Stimme.
    »Sei still«, sagt ihre Mutter. »Hör wieder deine Musik. Die können wir nicht mitnehmen.«
    Saba singt ein amerikanisches Lied, das sie und Mahtab von einer illegal importierten Musikkassette gelernt haben, und geht im Kopf englische Vokabeln durch. Sie wird ihr Englisch vervollkommnen und keine Angst haben.
Abalone. Abattoir. Abbreviate
.
    Ihr Vater wischt sich die Stirn. »Meinst du, dass das wirklich nötig ist?«
    »Wir haben das doch oft genug durchgekaut, Ehsan!«, blafft ihre Mutter. »Ich werde nicht zulassen, dass sie hier aufwächst … dass sie mit Dorfkindern ihre Zeit vertut, Kopftuch trägt und Arabisch lernt und darauf wartet, dass die sie verhaften. Nein, danke.«
    »Ich weiß, es ist wichtig« – die Stimme ihres Vaters klingt flehend –, »aber müssen wir es so offensichtlich machen? Wäre es denn so schlimm, wenn wir einfach so tun als ob … ich meine … es lässt sich doch ganz leicht verbergen.«
    »Nur wenn du ein Feigling bist«, flüstert ihre Mutter. Sie fängt an zu weinen. »Und denk dran, was passiert ist …«, sagt sie. »Die werden mich verhaften.« Saba fragt sich, was ihre Mutter damit meint.
    »Was bedeutet
abalon
e
?« Saba versucht, ihre Mutter abzulenken, kriegt aber keine Antwort. Der Streit macht ihr Angst, doch es gibt jetzt wichtigere Dinge zu klären. Sie tippt ihrem Vater auf die Schulter. »Wieso fährt Mahtab mit Khanom Basir? In unserem Auto ist doch genug Platz.« Es ist seltsam, dass Rezas Mutter überhaupt Auto fährt. Aber vielleicht heißt das ja, dass Reza auch mitkommt, und Saba liebt ihn fast genauso sehr, wie sie Mahtab liebt. Ja, sie erzählt sogar freimütig jedem, der fragt, dass sie Reza eines Tages heiraten wird.
    »In ein paar Jahren wirst du froh über diesen Tag
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