Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
ist, hängt sich den Rucksack um und sagt: »Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.«
    Saba versucht, nicht zu lachen, obwohl Ponneh es verdient hat, weil sie so hochnäsig ist. »Ich bring euch ein paar englische Wörter bei«, schlägt sie vor. »
Abalone
bedeutet … ähm … Witwengeld.«
    Reza blickt nach unten auf Sabas Rucksack. »Was hast du da drin?«
    Saba zupft an dem Reißverschluss, weil sie wirklich etwas dabeihat, das ihn zurückhalten wird. Wie sie ist Reza ganz verrückt nach amerikanischer Musik, und Saba ist seine einzige Quelle. Er leiht sich ihre alten Kassetten aus und versucht, die Noten auf der
setar
seines Vaters nachzuspielen, die die meiste Zeit Staub ansetzt, seit sein Vater weggegangen ist, um bei seiner neuen Familie zu leben. »Wahrscheinlich hast du noch nie was von Pink Floyd gehört«, sagt sie.
    »Hab ich wohl«, sagt Reza, dessen Stimme und Finger vor Vorfreude beben. »Kann ich mal sehen?«
    Er lügt offensichtlich, aber Saba widerspricht ihm nicht. Sie nimmt eine unbeschriftete Kassette und hält sie ihrem Freund hin. »Kannst du behalten«, sagt sie. »Ich hab sie oft genug gehört.«
    »Ehrlich?« Reza starrt auf die Kassette, während er sich hinsetzt und seinen Rucksack abstreift. Saba rückt näher an ihn ran und erzählt ihm, worum es in ihrem Lieblingssong von Pink Floyd geht, nämlich um Ziegelsteine und Lehrer und rebellische Kinder – ein Song, der so illegal ist, dass sich hundert Mullahs in die Hose machen würden, wenn sie auch nur eine einzige Zeile daraus hörten.
    »Das darfst du nicht annehmen«, sagt Ponneh. Rezas Augen huschen kurz von der Kassette weg. Er blickt Ponneh an, als wollte er sie anflehen, ihren dör f lichen Stolz zu vergessen. Dann sinken seine Schultern herab, und Saba muss seine Enttäuschung, Ponnehs gekränkten, wütenden Blick und die Tatsache ertragen, dass sie die beiden in ihrer gemeinsamen Armut vereint hat. Vielleicht handeln ihre Freunde so, weil sie wissen, dass Saba nicht mehr mit ihnen spielen dürfte, wenn es in ihrer Nähe irgendwelche Englisch sprechenden Stadtkinder gäbe. Der einzige Grund, warum sie nicht auf eine Schule in Teheran oder Rasht geschickt wird, ist der, dass ihr Vater es nicht ertragen könnte, noch eine Tochter zu verlieren. Und ganz gleich, wie viele verschlissene alte Jeans oder unmoderne geblümte Kopftücher sie trägt oder wie gut sie ihren Dialekt nachahmt oder versucht, Gilaki zu sprechen, sie ist und bleibt eine Außenseiterin.
    »Was, wenn ich dafür bezahle?«, schlägt Reza vor, kramt prompt in seinen Taschen nach Geld und zählt die Münzen ab. Er hat ein paar Toman, nicht mal genug für eine leere Kassette.
    »Brauchst du nicht«, sagt Saba und wünschte, sie wäre erwachsen und könnte einem geliebten Menschen ein Geschenk machen, ohne in Verdacht zu geraten, sie wollte angeben. Dann greift sie in seine ausgestreckte Hand und nimmt die kleinste Münze. »Das reicht«, sagt sie.
    Sie bleiben noch zwei Stunden in der Gasse sitzen. Saba und Ponneh flechten sich gegenseitig die Haare, während Reza loszieht, um für sie drei was zu essen zu kaufen. Er kommt mit Joghurt-Soda zurück, und sie reden über Sabas Unterricht, denn obwohl sie jetzt in dieselbe kleine Schule geht wie alle Kinder von Cheshmeh, deren Eltern sie entbehren können, ist sie die Einzige, die zusätzlich von Privatlehrern aus der Stadt in Englisch, Altpersisch, Mathematik und allen möglichen Naturwissenschaften unterrichtet wird. Reza durchstöbert Sabas Rucksack nach anderen Kostproben von Luxus, die ihn so offensichtlich faszinieren. Er zieht eine zerfledderte, vergilbte Illustrierte heraus und starrt die schöne blonde Frau auf dem Titelblatt an. »Was ist das?«, fragt er, und Ponneh rutscht zu ihm rüber, um einen Blick darauf zu werfen. Saba sieht, dass er sich nicht traut, die Frage zu stellen, die sich auf ihrer beider Gesichtern abmalt:
Ist das aus England oder Deutschland oder Frankreich? Oder vielleicht … Amerika?
    »Eine alte Illustrierte. Hab ich von Mamans Freundin bekommen, damit ich Englisch üben kann«, sagt sie. »Ist fast so alt wie ich.« Dann fügt sie hinzu, wobei ihre Begeisterung ebenso wächst wie die ihrer Freunde: »Die ist aus Amerika.« Die Zeitschrift hat sie von einer Collegefreundin ihrer Mutter, einer eleganten Ärztin namens Zohreh Sadeghi, die weit weg wohnte und sich im Flüsterton mit Maman über das neue Regime und den Schah unterhielt. Die Zwillinge nannten sie nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher