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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman
Autoren: Eva Baronsky
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Seit dem letzten Einschlag hat es sechzehn Mal getropft. Sechzehn Tropfen, seit der Boden zu zittern aufgehört hat. Sechzehn
     Tropfen, seit die kleine Petroleumfunzel wieder stumm und reglos brennt. Sechzehn Tropfen, eine winzige Ewigkeit.
    Kein Mensch weiß, woher sie kommen, schließlich läuft seit Tagen kein Wasser mehr aus den Leitungen. Sie quellen aus der Gewölbedecke
     in der Nische, wo die Kohlen gelegen haben, fallen mit einem knirschenden Geräusch auf den Sandboden und versickern dort.
     Die Intervalle sind lang, sehr lang. Eine Minute? Zwei? Man hört ihren Fall nur, wenn absolute Stille herrscht, wenn die Angst
     sogar die Atemgeräusche verschluckt.
    Wilhelmine zählt die Tropfen, so wie sie als Kind bei Gewitter die Sekunden zwischen Blitz und Donnerschlag gezählt hat, ganz
     langsam und gleichmäßig. Jede Sekunde ein Kilometer, hat Oma Agnes ihr erklärt; je länger es dauert, desto weiter ist das
     Unwetter entfernt.
    Eben noch hat es ohne Unterlass gekracht, sind Dachziegel oben auf dem Gehsteig zerschellt, hat der Boden gebebt, als risse
     jemand die Welt aus den Angeln.
    Siebzehn.
    Auf der anderen Seite des Kellers regt sich etwas, in der Ecke, in der sich die Frauen aus dem Haus gegenüber eingerichtet
     haben. Eine von ihnen rappelt sich jetzt hoch, Wilhelmine hört ihre Schritte, ein Ächzen, der Deckel des
Scheißeimers klappert. Das Ding ist randvoll, der Gestank unerträglich.
    Noch immer wagt keine zu sprechen, nur ein kurzes Flüstern kommt von irgendwo. Nach und nach spürt Wilhelmine ihre rechte
     Hand, die kleinen Stiche, von den Fingernägeln in den Handballen gepresst. Ihre Linke hält die Hand des Mädchens. Es schläft.
     Einen tiefen, gnadenvollen Kinderschlaf, als wäre es wirklich noch ein Kind, nur ab und an gibt es ein leises Grunzen von
     sich. Wilhelmine lockert den Griff, streicht sanft mit dem Daumen über die warme Haut, dann fährt ihre Hand durch das dichte
     braune Haar. Es ist strähnig geworden, aber dennoch weich und voll. Wilhelmine denkt an den dünnen, zarten Kleinkinderflaum
     von einst, der sich nicht hatte verlieren wollen, nie hätte sie damals gedacht, dass das Mädchen einmal so schöne Haare bekäme.
     Sie spürt den sich hebenden und senkenden Brustkorb. Der Begriff
friedlich
fällt ihr wie ein Fremdwort ein.
    »Ich geh nachsehen.« Hedwig Erlenbach ist aufgestanden. Sie hat eine Stimme wie aufgekrempelte Hemdsärmel und Mut für zwei
     Kerle. Wenn in diesem herrenlosen Keller noch eine etwas anpackt, dann sie.
    Kraftloser Protest.
    Bleib bloß unten, denkt Wilhelmine. Sie will es nicht wissen, nichts davon hören, nur wenn sie nichts hört und nichts weiß,
     kann sie sich flüchten, gelingt es ihr für Augenblicke, die Gedanken an das Undenkbare abzuwehren. Gedanken, die wie Aasgeier
     über ihr kreisen.
    Es dauert lange, bis Hedwig wiederkommt, im mageren Schein der Lampe wirkt ihr Gesicht wie Wachs. Hedwig vermeldet kaum Schäden
     am Haus, auch die Nachbarhäuser
seien ganz geblieben, aber ein paar Blocks die Straße runter stehe kein Stein mehr auf dem anderen.
    Wilhelmine spürt, dass Hedwig nicht alles sagt, während sie wortlos den Scheißeimer in die Nische zurückstellt. Sie hat ihn
     ausgeleert, und dafür ist Wilhelmine ihr dankbar.
    »Sie sind in Moabit.« Hedwigs Stimme wackelt.
    Moabit. Der Name fährt Wilhelmine wie ein Messerstich in den Körper. Unvermittelt jagt ihr Herzschlag los, pocht den Hals
     entlang, schnürt ihn enger, der Atem reicht kaum in ihre Brust hinab. Moabit. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, jetzt stürzen
     Wilhelmines Gedanken nach Moabit, den Weg entlang bis zu dem kleinen Kino, das sie manchmal besucht hat, zu Fuß ist sie gegangen,
     jetzt zählt sie die Schritte. Ist doch gleich um die Ecke, hat sie immer gesagt. Keine Viertelstunde dauert der Weg dorthin.
     Wilhelmine hört kaum das gedämpfte Gemurmel um sie herum, spürt allenfalls, dass sich etwas am Tonfall geändert hat. Und plötzlich
     ist er wieder ganz stark: der Impuls, das Mädchen zu packen und wegzurennen, einfach weg, als ginge das, als gäbe es noch
     irgendeinen anderen, einen sicheren Ort. Doch sie hockt nur steif, weiß, dass das Zittern, das ihren ganzen Körper einnimmt,
     die einzige Bewegung bleibt, zu der sie fähig ist.
    »… und dann finden se dir doch. Na denn kannste aber erst recht wat erleben, wat gloobste, wat die denn mit dir machen?« Die
     alte Dürbeck flüstert jetzt nicht mehr.
    Eine der Frauen heult auf.
    Auf einer
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