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Mein wildes Herz

Mein wildes Herz

Titel: Mein wildes Herz
Autoren: Martin Kat
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1. KAPITEL
    England, 1842
    Leif zitterte unter der dünnen Decke, die alles war, womit er seinen fast nackten Körper gegen die Kälte schützen konnte. Der Frühling ließ auf sich warten, und die Landstraßen waren aufgeweicht vom Schneematsch oder teilweise noch gefroren. Ab und zu tauchte eine fahle Sonne hinter den Wolken auf. Dann erhellten kurz ein paar Sonnenstrahlen die Straße.
    Ein scharfer Wind zerrte an der Decke, und Leif zog sie enger um sich. Er wusste nicht, wo er sich befand, sondern erinnerte sich nur, dass er auf holprigen, von niedrigen Steinmauern eingefassten Wegen durch eine endlose Landschaft gezogen war, in der manchmal Dörfer auftauchten. Seit mehr als vier Monden war er jetzt schon in diesem Land, und langsam verlor er jedes Zeitgefühl. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sein kleines Schiff irgendwo nördlich von hier an einer felsigen Küste zerschellt war und seine neun Kameraden mit sich ins nasse Grab genommen hatte. Er allein war mit gebrochenen Knochen zurückgeblieben.
    Ein Schäfer hatte ihn in der eisigen Brandung gefunden, mit nach Hause genommen und während des brennenden Fiebers gepflegt. Leif war mehr tot als lebendig gewesen, als Händler gekommen waren, den Schäfer mit Silbermünzen bezahlt und Leif mit sich geschleppt hatten.
    Sie wollten ihn, weil er so anders aussah, anders als alle Männer in diesem fremden Land. Er konnte ihre Sprache nicht sprechen und auch kein Wort von dem verstehen, was sie sagten. Das schien sie jedoch zu amüsieren und seinen Wert sogar noch zu steigern. Er war mindestens fünf Zoll größer als die meisten Männer, und sein Körper war viel muskulöser. Und wenn einige auch blond waren wie er, so trugen nur wenige Bärte und keiner einen so langen und zottigen Bart wie Leif. Außerdem waren ihre Haare kurz geschnitten, während seine ihm bis über die Schultern fielen.
    Als man ihn in einen Wagen gehievt und ihn von der Schäferhütte weggebracht hatte, war Leif zu schwach gewesen, um sich zu wehren. Doch nachdem seine Kräfte langsam zurückgekehrt waren, fürchteten ihn die Leute, die ihn mitgenommen hatten, und fesselten ihn an Armen und Beinen mit schweren Eisenbändern. Er war in einen Käfig gesteckt worden, in dem kaum genug Platz war für einen Mann seiner Größe. Dort musste er sich auf den mit Stroh bedeckten Boden kauern wie ein Tier.
    Leif galt als eine Abnormität, die man vor den Bewohnern der Gegend zur Schau stellte. Was für eine grausame Art der Unterhaltung. Er wusste, dass man bezahlte, um ihn sehen zu dürfen. Der fette Mann mit der Narbe auf der Stirn, der ihm immer das Essen brachte, sammelte Geld ein bei den Leuten, die sich um seinen Käfig scharten. Dieser Mann – sie nannten ihn Snively – schlug und provozierte Leif, um ihn in Raserei zu versetzen. Denn das schien der Menge, die bezahlt hatte, um ihn sehen zu dürfen, zu gefallen.
    Leif hasste den Mann. Er hasste sie alle.
    Dort, wo er zuvor gelebt hatte, war er ein freier Mensch gewesen, ein Mann, der unter seinen Landsleuten einen hohen Rang innehatte. Sein Vater hatte ihn gebeten, die sichere Heimat nicht zu verlassen, aber das Verlangen, die Welt jenseits seiner Insel kennenzulernen, ließ Leif keine Ruhe.
    Seitdem hatte er allerdings nur wenig von der Welt außerhalb seines Käfigs gesehen. Der Hass und die Wut nagten an ihm wie ein wildes Tier. Täglich flehte er die Götter um eine Gelegenheit zur Flucht an, um die Kraft auszuharren, bis seine Zeit kommen würde. Es war alles, was ihn noch am Leben hielt.
    Doch als die Tage vergingen und sich keine Gelegenheit zur Flucht ergab, wuchs die Verzweiflung in ihm. Ihm war, als verwandle er sich langsam in das Tier, zu dem sie ihn machen wollten. Nur im Tod würde er noch Frieden finden.
    Trotzdem kämpfte Leif gegen die dunkle Verzweiflung an und klammerte sich an die schwache Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein.

2. KAPITEL
    London, 1842
    „Mädchen, ich sage Dir, es ist an der Zeit, dass du deine Pflicht tust!“ Heftig schlug der Earl of Hampton mit der knotigen Hand, auf der die Adern dick hervortraten, auf den Tisch.
    Der dumpfe Knall ließ Krista Hart auffahren. „Meine Pflicht? Es ist wohl kaum meine Pflicht, einen Mann zu heiraten, den ich nicht ausstehen kann!“ Sie befanden sich auf einem Ball im Stadtpalais des Duke of Mansfield. Durch die Wände der Bibliothek konnte man das achtköpfige Orchester hören, das oben in dem verschwenderisch mit Spiegeln ausgestatteten
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