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Finsterherz

Finsterherz

Titel: Finsterherz
Autoren: Ravensburger
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Prolog
    Kennst du die Frausisstraße?
    Ganz sicher kennst du sie.
    Die Straße wurde nach jenem edlen Herzog benannt, der, als er seine Armee vom Feind geschlagen wähnte, seinen herrlichen Paradeschimmel hinunter aufs Schlachtfeld lenkte, mit weit ausholender, majestätischer Geste seinen Hut lüftete, vor dem feindlichen Fürsten absaß, sein Schwert zog, wie um es auszuhändigen, und es dem Mann mitten ins Herz stieß, sodass die verloren geglaubte Schlacht gewonnen und die Stadt gerettet war.
    Die Straße wurde nach ihm benannt. Du kennst sie gewiss.
    Du musst auch vom Puppenmacher gehört haben oder wirst zumindest schon einmal ein Spielzeug gesehen haben, das aus seiner Werkstatt stammt.
    Nein?
    Ich kann dir sagen: Von dort kamen die außergewöhnlichsten Dinge, die je von Menschenhand erschaffen wurden. Der Puppenmacher bezog sie nicht irgendwoher und verkaufte sie dann wie ein gewöhnlicher Ladenbesitzer weiter. Er stellte sie alle selbst her, musst du wissen: kleine Figuren, Männer und Frauen, die sich bewegten, dazu Pferde und Wagen, Vögel und Hunde, Katzen und Fisch e – die erstaunlichsten Apparate. Für jeden von ihnen gab es einen eigenen Schlüssel, der nur in dieses eine Spielzeug und nirgendwo anders hineinpasste. Der Puppenmacher besaß zusätzlich einen Schlüssel, der überall funktionierte, und diesen trug er an einer Kette über seiner Weste. Aber alle anderen Leute brauchten immer genau den passenden Schlüssel für ein bestimmtes Spielzeug, wenn es sich in Gang setzen sollte. Und jedes von ihnen funktionierte. Die Schlüssel an sich waren schon etwas Besonderes, aus Bronze oder edlem Silbe r – und klein, so klein. Du konntest sie nur zwischen zwei Finger nehmen und musstest die Nägel fest zusammendrücken, um sie zu halten. Bei jedem Spielzeug gab es an verborgener Stelle ein Löchlein für den Schlüssel. Du musstest ihn bloß hineinstecken und drehen und drehen, dann konntest du einen Schritt zurücktreten und staunen.
    Einen kurzen Moment lang passierte nichts, doch dan n – und ich schwöre, dass es so wa r – bewegten sich die Augen der Puppe und schauten dich an, als fragten sie: »Nun, was soll es denn heute sein?« Sogleich begann sich das Spielzeug zu bewegen. Du wusstest nie, was es als Nächstes tun würde. Und es tat nie zweimal dasselbe. War es ein Pferd, konnte es steigen und davongaloppieren und du musstest es schnell einfangen, bevor es noch vom Tisch sprang. Eine Frau in feiner Robe machte einen Knicks und tanzte mit anmutigen Bewegungen einen Reigen. Ein Soldat oder Wächter konnte auf einmal seinen Spieß senken und dir in die Hand stechen, wenn du sie nicht schnell genug wegzogst. Und die Augen all dieser Puppen bewegten sich, das kann ich bezeugen. Ich habe es ausprobiert. Ich habe einmal eine solche Puppe aufgezoge n – sie gehörte nicht mir, aber ich hatte die Gelegenheit daz u –, ließ sie los, trat zurück und beobachtete, wie diese kleinen, glänzenden Augen sich hin und her bewegten, bis sie mich fanden, und das brachte mich vollkommen aus der Fassung. Wäre ich kein so vernünftiger Mensch, würde ich glatt behaupten, die Spielsachen seien lebendig gewese n – oder etwas in ihnen. Aber natürlich waren sie es nicht. Es waren Spielsachen. War ihre Feder abgelaufen, blieben sie reglos stehen und bewegten sich bis Weihnachten nicht mehr, es sei denn, man zog sie erneut mit dem Schlüssel auf.
    Sie waren sehr teuer. Allerlei reiche Leute und Adlige kauften sie. Manchmal sah man prächtige Kutschen in der Frausisstraße anhalten und konnte beobachten, wie der Kutscher vom Bock stieg und die Tür öffnete. Dann kamen die Damen und Herren in ihren kostbaren Gewändern heraus und traten unter dem Holzbogen hindurch in die schmale Sackgasse, in welcher der Puppenmacher seine Werkstatt hatte. Später, auf dem Rückweg, trugen sie eine kleine Schachtel in der Hand, die mit einer roten Schleife zugebunden war, und jedermann wusste, was sich darin befand.
    Der Puppenmacher erlaubte nicht, dass ihm irgendjemand bei der Arbeit zusah, obwohl doch jeder, der den Laden betrat, seine Werkbank sehen musste. Jeden Tag um vier Uhr schloss er die Läden, zog die Jalousien herunter und ward dann nicht mehr gesehen bis zum nächsten Morgen, wenn er sie wieder öffnete. Es lagen Werkzeuge auf dem Arbeitstisch, daneben eine kleine Drehmaschine, mit der er die winzigen Schwungräder und Zahnrädchen zuschnitt, die das Innere seiner Apparate ausfüllten. Diese waren so winzig, dass
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