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Finsterherz

Finsterherz

Titel: Finsterherz
Autoren: Ravensburger
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Manchmal tat er ihm sehr weh. Aber Mathias konnte nicht davonlaufen wegen des Stricks. Aus dieser Zeit waren in Mathias’ Gedächtnis nur verworrene Bilder zurückgeblieben. Es fiel ihm nicht leicht, sich an diese Dinge zu erinner n – aber im Grunde wollte er es auch gar nicht. Er musste das Leben nehmen, wie es war, da er keine andere Wahl hatte.
    Nur zwei wichtige Dinge wusste er genau: erstens, dass Gustav sein Großvater war, und zweitens … nun, das war etwas, was er fast wusste, ein großes Geheimnis, das Gustav ihm eines Tages verraten würde. Als Gustav einmal betrunken wa r – und das kam sehr oft vo r –, hatte er Mathias erzählt, er wisse ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das ihn, Gustav, unvorstellbar reich machen werde. Ein Geheimnis, so ungeheuerlich, dass es Menschen gab, die bereit waren ihn umzubringen, nur damit es nicht aufgedeckt werde. Als Gustav wieder nüchtern gewesen war, hatte Mathias ihn gefragt, was das denn für ein Geheimnis sei, und Gustav hatte ganz schmale Augen bekommen, weil ihm klar wurde, dass er dem Jungen zu viel verraten hatte. »Du darfst niemandem etwas davon erzählen«, sagte er zu Mathias. »Wenn du ein braver Junge bist und alles tust, was ich sage, werde ich dir eines Tages dieses Geheimnis verraten, das nur ich kenne.« Und er hatte seinen Finger auf Mathias’ Lippen gelegt und dann auf seine eigenen. »Eines Tages, wenn du immer brav bist.«
    Das Geheimnis war auch der Grun d – und das ist genau jene Merkwürdigkeit, von der ich dir erzählen wollte –, weshalb Gustav sein ganzes Gesicht weiß schminkte. Er wusch die Farbe nie ab. Niemals. Gab es eine bessere Tarnung als ein Gesicht, weiß wie das eines Toten, ein besseres Versteck als einen Wanderzirkus und einen besseren Gefährten als seinen Enkel? Woher sollte ein Kind irgendetwas von Bedeutung wissen?
    Als Gustav sich Lutsmanns Zirkus anschloss, war er ein wirklich guter Zauberer gewesen. Wenn die Leute nicht verstehen, wie etwas gemacht wird, sind sie schnell bereit, an Zauberei zu glauben. Wenn ich meine Hand öffnen würde und da, wo einen Augenblick zuvor noch nichts war, auf einmal ein Vogel wäre, würdest du vielleicht nicht wissen, wie ich das gemacht habe. Aber du würdest annehmen, ich hätte den Vogel irgendwie dorthin gesetzt. Aber wenn ich dich bäte, deine eigene Hand umzudrehen und auszustrecken, und auf deiner Handfläche säße dann plötzlich ein Voge l … Tja, wie könnte der wohl dort hingekommen sein? So etwas konnte Gustav vollbringen. Das und noch viel mehr. Er konnte jemandem aus dem Publikum ein straff gebundenes Tuch um den Hals zaubern, wenn dieser mit einem Zwischenruf seinen Unmut erregt hatte. »Nimm dich in Acht«, sagte Gustav dann, »sonst wird nächstes Mal ein Strick daraus.«
    Das Kunststück war keine echte Magie, aber wie hatte er es vollbringen können?
    Lutsmann hätte es sich niemals träumen lassen, einen so hervorragenden Zauberer zu finden, und engagierte Gustav deshalb vom Fleck we g – obwohl er bis dahin nur einen Teil der Tricks gesehen hatte, die Gustav beherrschte. Er nahm ihn so, wie er war, mitsamt dem Jungen, und stellte keine Fragen. Lutsmann sah es einem Mann an, wenn er eine Vergangenheit hatte. Doch die spielte keine Rolle für ihn. Er hatte einen Zauberer und Gustav eine Möglichkeit, sich zu verstecke n – was wollten beide mehr?
    Nun, ich kann dir sagen, was Lutsmann wollt e – was Anna-Maria wollte. Sie beide wollten wissen, was Gustav zu verbergen hatte. Denn warum sonst hätte ein Mann wie er sich ihrem Zirkus anschließen sollen? Warum sonst zeigte er sein Gesicht nie ohne Schminke?
    Und so sah das Leben aus, das Mathias im Zirkus führte: Er bereitete die Dinge vor, die die Künstler für ihre Vorstellung brauchten. Er half ihnen beim An- und Auskleiden, ohne dass ihm dafür gedankt wurde. Estella, die Schlangenfrau, war die Schlimmste von allen. Mathias ging ihr möglichst aus dem Weg. Manchmal war das aber nicht möglich. Sie nannte ihn »mein Hübscher« und legte ihre Hand unter sein Kinn, als wollte sie ihn tätscheln, doch stattdessen bohrte sie ihm den Finger in den Hals, sodass er an ihrem Fingernagel hing wie an einem Eisennagel. »Mein Hübscher«, pflegte sie zu sagen, und ihre Stimme glich der einer Katze, die ihre Krallen in Seide schlägt. Er holte Wasser für die Zirkusleute, er wusch und flickte und tat all die Arbeiten, die von einem Kind nicht verlangt werden dürften. Aber er hatte keine andere Wahl. Es gab niemanden,
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