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Finsterherz

Finsterherz

Titel: Finsterherz
Autoren: Ravensburger
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der sich um ihn gekümmert hätte.
    Wenn sie in einen Ort kamen, der groß genug war für eine Vorstellung, ließ Lutsmann die bunten Wagen anhalten. Die Seitenwand des zweiten Wagens wurde heruntergelassen, sodass eine Bühne daraus wurde, und da stand Lutsmann dann in seinen eleganten Kleider n – schwarze Stiefel und roter Frac k – und pries seinen Zirkus so lange lautstark an, bis sich genügend Menschen um den Wagen versammelt hatten. Neben ihm stand der Feuerschlucker. Er steckte sich eine brennende Fackel in den Mund und spie dann eine lange Flamme aus, die ein Bündel Stroh entzündete, das Lutsmann in der Hand hielt. Er konnte auch Schwerter schlucken. Er konnte sich fünf davon in den Rachen stecken, eines nach dem anderen. Währenddessen befand sich auch Gustav auf der Bühne, ließ Spielkarten als langes Band aus seinen Händen springen und fing sie wieder ein, breitete sie aus wie Fächer und ließ sie einen Salto schlagen. Estella bog ihren Körper nach hinten und setzte sich auf ihren eigenen Kopf, und die ganze Zeit über rief Lutsmann mit lauter Stimme und schlug die Trommel, und Anna-Maria ging durch die Menge und verkaufte Karten für die Vorstellung. Denn das war noch nicht die richtige Vorstellung; es waren nur Happen, die den Leuten Appetit machen sollten, sie sich anzusehen. Die eigentliche Vorstellung begann erst, wenn es dunkel wurde und die Artisten die Fackeln anzündeten. Dann lag die ganze Szenerie im Schatten, und im Fackelschein bemerkten die Zuschauer nicht, wie schäbig die Wagen waren; sie sahen nur das, was sie sehen wollten.
    Lutsmann kündigte jede Nummer an. Der Kraftakrobat kam als Erster dran. Wie bei den meisten Zirkusnummern war nicht alles so, wie es zu sein schien. Während er vor der Menge seine Muskeln spielen ließ, musste Mathias in einen geheimen Verschlag unter dem Wagen kriechen und im rechten Augenblick die schweren Gewichte an eine Eisenstange unter dem Boden ketten. Die jungen Männer, die Lutsmann auf die Bühne rief und dazu aufforderte, ihr Glück zu versuchen, konnten die Gewichte dann keinen Zentimeter hochheben. Mathias wusste auch, wann er die Ketten wieder zu lösen hatte, damit der Kraftakrobat sie vor der staunenden Menge hoch über seinen Kopf stemmen konnte. Sein Gesicht war dabei rot vor gespielter Anstrengung.
    Später kam Estellas Auftritt. Dabei wurde nicht geschummelt. Sie bog und drehte ihren mageren Körper, und die Männer des Dorfes starrten sie mit großen lüsternen Augen an, bis ihre Frauen dafür sorgten, dass sie woanders hinsahen. Dann kamen der Feuerschlucker, der Jongleur und der Seiltänzer und als Letzter Gustav. Mathias beobachtete die Gesichter in der Menge. Die Leute schauten mit offenem Mund zu, wie der alte Mann Flaggen aus der Luft zauberte und leuchtende Kugeln über ihren Köpfen dahinschweben ließ, knapp außerhalb ihrer Reichweite. Mathias fiel allerdings nie auf, dass Gustav hinter seiner weißen Maske das Publikum nach einem bekannten Gesicht absuchte.
    Es wunderte Mathias, dass Gustav der Menge nie zeigte, was wirklich in ihm steckte. Das war viel mehr, als sie je zu sehen bekam. Manchmal konnte Gustav auch freundlich sein, was Mathias jedoch seltsam vorka m – dann führte er ihm einen Trick vor, damit er aufhörte zu weinen. »Schau her«, sagte er und tat dann etwas Erstaunliches, wie einen Vogel in Mathias’ Hand zu entdecken oder kalte blaue Flammen aus den Fingerspitzen schießen zu lassen. Immer wenn er solche Kunststücke vollführte, war die Luft von einem Duft nach Honig und Harz erfüllt. Dieser Duft hing auch später noch in Gustavs Kleidern, aber Mathias kam nie dahinter, was ihn hervorbrachte, und Gustav verriet es ihm nicht.
    So hat es sich abgespielt.
    Doch dann begann der Abstieg. Mathias fiel auf, dass sein Großvater zerstreut wurde. Er war auf der Bühne nicht bei der Sache. Gelegentlich berechnete er seine Tricks falsch, ließ sogar Dinge fallen, was früher nie vorgekommen war. Nachts wälzte sich der alte Mann in seinem Bett herum, und wenn Mathias aufstand, um auszutrete n – es gab keine Toilette im Wage n –, packte Gustav ihn, als wäre er ein Dieb. Minutenlang starrte er ihn in der Dunkelheit an und fragte in einem fort, ob es bald Tag würde. Manchmal wusste er nicht mehr, wer Mathias war oder weshalb er hier war, dann wurde er wütend und beschuldigte ihn, ihm sein Geheimnis stehlen zu wollen. Solange Mathias denken konnte, hatte Gustav mit einer Pistole unter seinem Kopfkissen
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