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Finsterherz

Finsterherz

Titel: Finsterherz
Autoren: Ravensburger
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geschlafen. Eines Nachts, als er wieder einmal tobte, hielt er sie mit seiner zitternden Hand an den Kopf des Jungen und verharrte schweigend. Es war der längste Augenblick in Mathias’ Leben.
    Am Morgen, als Gustav wieder er selbst war und Tränen des Selbstmitleids vergoss, nahm Mathias die Pistole an sich und warf sie ins hohe Gras. Gustav merkte überhaupt nicht, dass sie nicht mehr da war, oder er zeigte es zumindest nicht.
    Keine Arznei wollte helfen. Gustav probierte verschiedene au s – sie wurden geliefert in kleinen, roten Fläschchen, deren Inhalt er auf einmal hinunterkippte oder in einem kleinen Krug mit Wein mischte. Es wurde so schlimm, dass er auf der Bühne versagte. Er begann zu zittern und man verstand ihn kaum noch, wenn er sprach. Er vergaß mitten in der Vorstellung, wie es weiterging, und die Menge zischte und lachte ihn aus, wenn ihm die Karten aus der Hand fielen. Aber trotz allem, was Gustav ihm angetan hatte, spürte Mathias Tränen der Wut in sich aufsteigen, wenn die Zuschauer über den gebrechlichen Mann mit dem weißen Gesicht lachten, denn er war immer noch sein Großvater. So spielten sich Gustavs Auftritte jetzt ab. Lutsmann tat nichts dagegen. Die anderen wollten den alten Mann nicht mehr dabeihabe n – er war nichts als ein zusätzliches Maul, das gestopft werden musst e –, nur Lutsmann hielt zu ihm.
    »Ich tu dir einen Gefallen«, sagte er in dem aalglatten Ton, der ihm eigen war, und legte den Arm um Mathias. »Auch wenn die Leute über ihn lachen, wir lassen euch trotzdem nicht verhungern.« Dann fasste er sich an die Nase. »Vielleicht kannst du uns ja eines Tages dafür einen Gefallen erweisen.«
    Mathias wusste, was er meinte. Lutsmann wollte Gustavs Geheimnis erfahren. Einmal hatte Mathias Anna-Maria dabei überrascht, wie sie Gustavs Taschen durchwühlt hatte. Sie sagte, sie hätte aufgeräumt. »So eine Unordnung!« Diese Lüge hätte sie sich sparen können, denn Mathias wusste, dass sie nach etwas gesucht hatte, selbst wenn sie vielleicht keine genaue Vorstellung von dem Gesuchten besaß. Sie und ihr Mann hatten offenbar keine Angst mehr vor Gustav, jetzt, da er gebrechlich war und sabberte und er ihnen keinen Strick mehr um den Hals zaubern konnte. Deshalb kümmerte Mathias sich um ihn und beschützte ihn, so weit ein Junge das vermag, denn Gustav war sein Großvater.
    So ein Kind war Mathias.
    Dann kam der Tag mit den Wölfen und den Pferden. Der Zirkus zog weiter und machte auf dem nächsten Marktplatz Station. Der Wagen, in dem sie reisten, wurde wie gewöhnlich ausgeräumt und die Bühne aufgebaut. Als Gustav an der Reihe war, stand er da und blickte hinunter in ein Meer lachender Gesichter. Er war sich nicht sicher, was man als Nächstes von ihm erwartete. Mathias schaute weg wie immer, denn er wusste, was passieren würde, und konnte es nicht mit ansehen. Doch als er sich wegdrehte, sah er in der Menge einen Mann mit einem Gehstock, dessen Knauf aus Silber war. Der Stock und nicht der Mann war es, der ihm zuerst ins Auge fie l – der Knauf warf das Licht der Fackeln zurück, die die Bühne erhellten. Das kam Mathias merkwürdig vor, hatte er doch in der letzten Stadt, in der sie gastiert hatten, einen ebensolchen Stock mit blitzendem Knauf gesehen. Mathias betrachtete den Mann, der den Stock hielt, und stellte fest, dass es derselbe Zuschauer wie in der letzten Stadt war. Und das kam ihm erst recht merkwürdig vor, denn die Leute sahen sich dieselbe Vorstellung normalerweise nicht zweimal an. Und ganz gewiss folgten sie dem Zirkus nicht von einer Stadt zur anderen. Aber es war derselbe Mann, Mathias war sich ganz sicher. Er stand ziemlich weit hinten und beobachtete aufmerksam den Alten auf der Bühne. Jetzt entdeckte auch Gustav ihn. Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte den Mann mit dem silberbeschlagenen Gehstock an. Speichel lief aus seinem Mund, er blickte sich hektisch nach allen Seiten um, als wollte er weglaufen, doch als er einen Satz nach vorn machte, stieß er mit dem Knie an die Seitenwand des Wagens, stürzte über den Bühnenrand und prallte mit dem Kopf auf das harte Pflaster.

Der Mann mit dem silberbeschlagenen Gehstock
    Die Menge johlte vor Freude, als Gustav von der Bühne fiel. Zwei Männer kamen nach vorn gelaufen und versuchten ihn hochzuheben, um ihn wieder hinaufzuhieven, doch sein Körper war so schlaff wie der einer Lumpenpuppe. Dann merkten sie auf einmal, dass sie Blut an den Händen hatten. Auch Gustavs Haar war voll
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