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Finsterherz

Finsterherz

Titel: Finsterherz
Autoren: Ravensburger
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mitschleiften. Schließlich durchtrennten die Zirkusleute die Seile und fuhren weiter, so schnell sie konnten. Die beiden Pferde überließen sie den Wölfen. In beiden Wagen hing innen eine kleine Lampe, und so konnte jeder Reisende die Angst in den Gesichtern der anderen sehen, als die Wölfe die Pferde töteten. Dann war alles still, bis auf den schnellen Atem der Menschen und das Knarren der Wagenräder.
    Im ersten Wagen war alles, was ein Zirkus braucht: Nahrungsvorräte, verblichene Kostüme, Kulissen. In diesem Wagen reisten auch der Zirkusdirektor Lutsmann und seine stark geschminkte Frau Anna-Maria. Auf diese Weise, so pflegte er zu behaupten, könne er dafür sorgen, dass jedes Requisit zur Hand sei, wenn es gebraucht werde. Aber alle kannten den wahren Grund: Lutsmann glaubte, seine Mitarbeiter würden die Sachen stehlen, wenn er sie in den zweiten Wagen lud. So ein Mann war er. Er glaubte stets, seine Leute würden ihn bestehlen, weil er seinerseits keine Gelegenheit ausließ, sie zu bestehlen. Er bestahl sie, indem er ihnen kaum etwas zu essen gab. Er bestahl sie, indem er ihnen den Lohn nicht auszahlte und nie seine Versprechen hielt. Aber sie wussten nicht, wohin sie sonst gehen sollten. Es waren Menschen, die früher nur einen Wunsch gekannt hatten: zu jonglieren und zu tanzen, gewaltige Flammen zu speien, Purzelbäume zu schlagen oder enorme Gewichte zu stemmen. Doch sie hatten es in ihrer Kunst nie weit genug gebracht, um bei einem richtigen Zirkus arbeiten zu können. Als Lutsmann sie engagierte, dachten sie, dies sei wenigstens ein Anfang. Erst später erkannten sie, dass sie nie eine andere Chance bekommen würden und all ihre Träume und Hoffnungen zerronnen waren. Es gab für sie nur noch Lutsmanns Wanderzirkus. Nichts ist schrecklicher, als wenn man keine Träume und keine Hoffnungen mehr hat. Auf diese Weise besaß Lutsmann nicht nur den Zirkus, sondern er besaß auch die Menschen.
    Seine Frau Anna-Maria war überaus boshaft. Sie hielt sich für eine große Schönheit. Vielleicht war sie das auch einmal gewesen. Jeden Tag trug sie eine dicke Schicht Schminke auf ihr Gesicht auf: Rouge auf die Wangen, Kohle auf die Wimpern, Rot auf die Lippe n – ein Rot, so dunkel wie Blut. Hochmütig blickte sie auf alle anderen herab. Stets trug sie eine Reitpeitsche bei sich, mit der sie um sich schlug, wenn die Wut sie packte. Lutsmann nannte sie nur »mein Täubchen« oder »mein Augapfel«. Sie hingegen hieß ihn einfach Lutsmann, und wenn sie rief, sprang er sofort herbei.
    Aber wie stand es um die Artisten? Man würde annehmen, dass sie sich umeinander kümmerten, wenn schon Lutsmann sich nicht um sie kümmerte. Aber da hätte man sich gründlich getäuscht. Die Zirkusleute waren engherzig und nachtragend. Vielleicht war das der eigentliche Grund, weshalb sie hier gelandet waren. Sie gehörten zu ebendieser Sorte Mensch. Lutsmanns Zirkus war das tiefste Loch, in das sie je gefallen waren. Womöglich hätten sie sich überall so benommen. Womöglich hätten sie aber auch bessere Menschen sein können, wenn die Welt besser zu ihnen gewesen wäre. Diese Frage ist schwer zu beantworten.
    Es gab einen Kraftakrobaten, einen Feuerschlucker, einen Seiltänzer, einen Jongleur und Tänzer, eine Schlangenfrau, die ihre Gliedmaßen auf kaum vorstellbare Art und Weise verbiegen konnte, einen Zauberer und einen Jungen. Und dieser Junge war das einzig Gute in dem Wagen, der mit knirschenden Rädern über die Straße fuhr.
    Ich will dir von ihm erzählen, dann kannst du dir selbst eine Meinung über ihn bilden. Er hieß Mathias.
    An eine andere Welt als Lutsmanns Wanderzirkus konnte er sich nicht erinnern. Es war nicht die einzige, in der er gelebt hatte, aber es war die einzige, von der er eine genaue Vorstellung besaß. Vor elf oder zwölf Jahren hatte es eine andere Welt gegeben, in der zuerst seine Mutter und dann sein Vater gestorben waren, danach sein Onkel, der Bruder seines Vaters, und die Tante, die Frau des Onkels. Und dann war da noch sein Großvater gewesen, auch wenn er diesen Teil seiner Geschichte nie richtig verstanden hatte. Er war der Grund, weshalb Mathias jetzt in dem knarrenden Wagen saß. Sein Name war Gustav. Er war der Zauberer. Er hatte etwas Merkwürdiges an sich, von dem ich dir gleich erzählen werde. Als Mathias kleiner war, hatte Gustav ihn mit einem Strick an sein Handgelenk gebunden, damit er immer in seiner Nähe war. Wenn er fand, Mathias sei nicht brav gewesen, tat er ihm weh.
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