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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Kapitel 1
     
    Der Winter nahte. Der in der vergangenen Nacht gefallene Schnee war nicht geschmolzen und schmückte die kahlen Bäume. Die Stadt Toronto erwachte an jenem Morgen und sah sich in einen weißen Mantel gehüllt, und es war erst November.
    Vor den Doppelbögen des futuristischen Rathauses überquerte Dave Martyniuk den Nathan Philips Square mit äußerster Vorsicht und wünschte sich, er hätte seine Stiefel angezogen. Während er sich zum Eingang des Restaurants auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes vorkämpfte, bemerkte er mit einiger Überraschung, dass die anderen drei bereits auf ihn warteten.
    »Dave«, bemerkte Kevin Laine mit scharfem Blick. »Ein neuer Anzug! Wann ist das denn passiert?«
    »Hi, alle miteinander«, begrüßte sie Dave. »Den hab’ ich mir letzte Woche besorgt. Kann doch nicht das ganze Jahr mit ein und derselben Cordjacke rumlaufen, oder?«
    »Welch tiefschürfende Wahrheit«, spottete Kevin grinsend. Er trug Jeans und eine Schaffelljacke. Und Stiefel. Nachdem er das obligatorische Referendariat in einer Anwaltspraxis abgeschlossen hatte, das für Dave gerade erst begann, hatte Kevin sich nun in den gleichermaßen lästigen, wenn auch weniger steifen sechsmonatigen Lehrgang gestürzt, der ihm die Zulassung als Anwalt einbringen sollte. »Wenn das ein dreiteiliger Anzug ist«, fügte er hinzu, »dann ist das Bild, das ich immer von dir hatte, unwiderruflich dahin.«
    Wortlos knöpfte Dave sein Jackett auf und enthüllte darunter die leuchtend marineblaue Weste.
    »Gott beschütze uns mit seinen himmlischen Heerscharen!« rief Kevin aus, bekreuzigte sich mit der falschen Hand und machte zugleich mit der anderen das Zeichen gegen den bösen Blick. Paul Schafer lachte. »Eigentlich«, sagte Kevin, »sieht er gar nicht so übel aus. Aber warum«, erkundigte er sich, »hast du ihn nicht in der richtigen Größe gekauft?«
    »O Kev, lass ihn doch!« bat Kim Ford. »Er sieht sehr passabel aus, Dave, und er passt wie angegossen. Kevin kommt sich dagegen abgerissen vor und ist neidisch.«
    »Bin ich nicht«, protestierte Kevin. »Ich habe lediglich meinen Kumpel aufgezogen. Wenn ich Dave nicht necken darf, wen dann?«
    »Ist schon gut«, versetzte Dave. »Ich bin ein harter Bursche, ich kann’s aushalten.« Aber er dachte in diesem Moment an nichts anderes als an das Gesicht Kevin Laines im vergangenen Frühjahr, in einem Zimmer des Park Plaza Hotels. An dieses Gesicht und an die tonlose, mühsam beherrschte Stimme, mit der er gesprochen hatte, während sein Blick auf der zugrunde gerichteten Frau am Boden ruhte: »Das werde ich ihm heimzahlen, auch wenn er ein Gott ist und es meinen Tod bedeutet.«
    Einem, der solch einen Eid abgelegt hatte, überlegte Dave, sieht man manches nach, selbst dann, wenn seine Ausdrucksweise häufig verletzend ist. Man sah es ihm nach, weil Kevin an jenem Abend, und nicht zum einzigen Mal, der sprachlosen Wut hatte Ausdruck verleihen können, die sein eigenes Herz empfand.
    »Na gut«, sagte Kim Ford leise, und Dave wusste, dass sie auf seine Gedanken reagierte, nicht auf seine zwanglosen Worte. Was ihn beunruhigt hätte, wäre sie nicht gewesen, wer sie nun einmal war, mit ihrem weißen Haar, dem grünen Reif am Handgelenk und dem roten Ring am Finger, der damals erstrahlt war, um sie nach Hause zurückzubringen. »Lasst uns reingehen«, schlug Kim vor. »Wir haben viel zu bereden.«
    Paul Schafer, der Zweimal Geborene, hatte sich bereits abgewandt, um ihnen durch die Tür voranzugehen.
     
    Wie viele Nuancen, dachte Kevin, hat die Hilflosigkeit? Er erinnerte sich seiner Gefühle im vergangenen Jahr, als er hatte mit ansehen müssen, wie Paul sich in den Monaten nach dem Tod Rachel Kincaids immer mehr in sich zurückzog. Eine schlimme Zeit war das gewesen. Aber Paul hatte es überstanden, war während der drei Nächte am Sommerbaum in Fionavar so weit entrückt, dass er in vielerlei Hinsicht nicht mehr zu begreifen war.
    Doch er war geheilt, soviel hatte Kevin mitbekommen, und er bewahrte es sich als ein Geschenk Fionavars, eine Art Wiedergutmachung für das, was der Gott mit Namen Rakoth Maugrim, der Entwirker, Jennifer angetan hatte. Obwohl Wiedergutmachung nicht das richtige Wort war; die Sache war weder in dieser noch irgendeiner anderen Welt wiedergutzumachen, und es gab nur die Hoffnung auf Vergeltung, eine Flamme, trotz seines Eides so schwach, dass sie kaum noch brannte. Was waren sie schon allesamt gegen einen Gott? Sogar Kim mit ihrer
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