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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Autoren: Julie Leuze
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Eins
    Der Neue schwappt himmelblau über mich hinweg, mit Spuren von Schwarz und glitzernden Funken aus tiefem, geheimnisvollem Gold. Ich blinzele verwirrt. Diese Farbkombination hatte ich noch nie auf meinem inneren Monitor, und es gelingt mir nicht, sie einzuordnen.
    »Gott, ist der süß!«, flüstert Lena neben mir entzückt.
    »Hammer«, murmelt Vivian von schräg hinten.
    Verstohlen mustere ich den Jungen, der mir die goldblauen Wellen beschert hat: Er hat schulterlanges, schwarzbraunes Haar. Dunkle, leicht schräg stehende Augen. Lippen, die man nur als sinnlich bezeichnen kann. Groß ist er und schlank, unter seinem Shirt erahnt man die Muskeln. Zugegeben, »Hammer« trifft sein Aussehen ziemlich genau. Ich schlucke, in mein Himmelblau mischen sich Tinte und aufgeregte, hellrote Funken.
    Lässig geht er durch die Stuhlreihen nach hinten, wobei er die Blicke der anderen gar nicht wahrzunehmen scheint. Flüchtig schaue ich mich um: Die Jungs der Klasse wirken neugierig, die Mädchen hingerissen. Von seinem Gesicht, seinem Gang, den coolen Klamotten, die er trägt. Man sieht dem Neuen an, dass er aus der Großstadt kommt. Solche Shirts und Jeans bekommt man nicht in Walding, und Chucks wie die seinen sind Herrn Roser, dem Besitzer unseres einzigen Schuhladens, schon im letzten Herbst ausgegangen.
    Er schlendert an mir vorbei, ohne mich zu beachten, und setzt sich auf den einzigen freien Platz, neben Klassenstreber Fabian. Mein Herz klopft, die hellroten Funken stieben, und ich ärgere mich. Warum bringt dieser Typ mich so aus der Fassung? Er hat mich keines Blickes gewürdigt!
    Wieso auch, denke ich und kaue am Ende meines Bleistifts. Jungs wie er bemerken Mädchen wie mich grundsätzlich nicht. Ich bin nur Sophie, die Kleine mit den zu dichten Augenbrauen und dem Hang zum Irrsinn. Über Ersteres lacht die halbe Klasse. Über Letzteres nicht, weil niemand etwas von dem Farbenchaos in meinem Inneren ahnt.
    Und das soll auch so bleiben.
    »Hey, Sophie!«, zischt Lena. »Wolltest du dir das nicht abgewöhnen? Runter mit dem Stift!«
    Ertappt lasse ich den Bleistift sinken. Ich sehe aus wie eine verängstigte Zehnjährige, wenn ich so verloren auf dem Holz herumknabbere, nicht wie die Sechzehnjährige, die ich bin. Außerdem geht meine schlechte Angewohnheit langsam ins Geld: Alle paar Tage muss ich die peinlich zerkauten Dinger austauschen.
    »Danke, Lena«, flüstere ich. »Was täte ich nur ohne dich?«
    »Einen Bleistift-Großhandel ausrauben?«, schlägt Lena vor.
    Sie lacht leise, streicht sich eine blonde Locke hinters Ohr und sieht dabei aus wie ein herzensguter, etwas zu mollig geratener Engel. Ich schaue in ihre blauen Augen, sehe die Zuneigung darin. Sofort fühle ich mich besser. Seit ich denken kann, ist Lena meine beste Freundin, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändert. Nicht, solange sie nur meine Fassade kennt.
    »Was gibt es denn so Interessantes zu bereden, junge Damen?«, ertönt die miesepetrige Stimme von Herrn Müfflingen. Junge Damen! So nennt unser Bio-Lehrer seine Schülerinnen wahrscheinlich schon, seit er vor geschätzten hundertfünfzig Jahren an diesem Gymnasium angefangen hat. »Lena, Sophie, lasst uns doch bitte an eurer Unterhaltung teilhaben, sofern sie den Biologieunterricht betrifft. Wenn nicht, wovon ich wohl ausgehen muss, darf ich doch sehr um Ruhe bitten!«
    Wir schauen ihn ergeben schweigend an. Seine Augenlider zucken, wie immer, wenn er sich ärgert – und Herr Müfflingen ärgert sich oft. Nicht nur über Lena und mich.
    Er dreht sich wieder zur Tafel um und kritzelt etwas darauf. Dann schaut er noch einmal über die Schulter zu seiner missratenen Klasse. »Ach ja, euer neuer Mitschüler heißt Mattis Bending. So, und jetzt zurück zur Genetik.«
    Mattis Bending, denke ich. Mattis. Gefällt mir.
    Eine weitere glitzernde, himmelblaue Welle baut sich in mir auf, bevor sie sich an den Rändern meines Monitors bricht und langsam, ganz langsam verblasst. Seufzend beuge ich mich über mein Blatt, um mich Chromosomen und Zellkernen zu widmen.
    Als wir die Hauptstraße entlang nach Hause gehen, ist es zum ersten Mal in diesem Jahr warm genug fürs Freibad. Seit zwei Tagen hat es geöffnet, und Lena fragt mich, ob wir die Badesaison heute Nachmittag einläuten wollen.
    »Du kennst meinen neuen Bikini noch gar nicht«, sagt sie. »Ist zwar wieder mal in Elefantengröße, aber mir gefällt er trotzdem.«
    Ihr Blick bleibt an dem H&M-Plakat hängen, das die
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