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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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mit ihr nach Rasht zu fahren, wo sie noch einmal aufs Postamt gehen will. Jetzt, da seit Mahtabs Abreise ein Monat vergangen ist, müsste ein Brief von ihr angekommen sein – denn wie sehr ihre Eltern auch versuchen, ihre heimtückischen Pläne zu verschleiern, Mahtab wird immer einen Weg finden, Saba zu schreiben.
    Die drei Freunde gehen durch die fremden Straßen von Rasht, halten sich dicht an irgendwelche Erwachsene, damit es nicht so aussieht, als wären sie allein unterwegs. Dann und wann blickt Saba in einen handgezeichneten Stadtplan und zupft ihr blaues Kopftuch zurecht, doch die meiste Zeit betrachtet sie Reza, der ein paar Schritte vor ihnen marschiert, seinen ramponierten Fußball unter den Arm geklemmt. Manchmal läuft er mit ihm dribbelnd ein Stück voraus, als würde er für Saba und Ponneh ein Kräftefeld schaffen – denn für Reza macht es nur dann Sinn, mit Mädchen befreundet zu sein, wenn man auch zeigen kann, dass man sie beschützt. Dieses Spiel spielt er schon, seit die Hafezis ihren ersten Sommer in Gilan verbrachten. Obwohl ihre Mutter ihr immer einschärfte, sie sollte mit der Überzeugung auftreten, dass sie den Jungs ebenbürtig ist, hatte Saba nie etwas dagegen, Reza die Führung zu überlassen. Es ist eine Möglichkeit, sich in Rezas und Ponnehs Welt einzufügen – in ihr bäuerliches Leben mit Jeans aus dritter Hand, Orangensaft, der direkt aus einem Loch in der Schale gesaugt wird, Armreifen, die nicht zusammenpassen, provinziellen Kopftüchern in Rot und Türkis mit paillettenbesetzten Säumen, fettigen, in der Mitte gescheitelten Haaren, die darunter hervorlugen. Jedes Detail entzückt sie. Obwohl ihr Vater es nicht gerne sieht, dass sie zu ihnen nach Hause geht und das Geschirr in ihren winzig kleinen Küchen berührt, verbietet er es nicht. Ponnehs und Rezas Familien sind Handwerker: Sie flechten Binsen und weben Stoffe, kochen Marmeladen und machen ein. Sie haben viele Jobs und wenig Geld, aber sie können lesen und schreiben und leben in ansehnlichen Häusern. Ihre Kinder gehen zur Schule und werden vielleicht sogar mal studieren, falls ihre Noten gut genug sind. Für Sabas Vater sind sie anders als die Feldarbeiter, die in der Nebensaison bei ihnen anklopfen und Arbeiten im Haus für ihn verrichten – doch in Wirklichkeit sind alle Menschen in Cheshmeh unau f lösbar verbunden, miteinander und mit der Feldarbeit. Gibt es hier überhaupt jemanden, der alt geworden ist, ohne wenigstens mal einen Tag lang Reis zu setzen oder Tee zu pflücken?
    Als sie eine schmale Straße entlanggehen, hören sie auf einmal eine schneidende Stimme. »He, Kinder! Herkommen.« Ein Sittenpolizist steht träge vor einem fensterlosen Laden auf der anderen Seite. Er stützt ein Knie auf einen Hocker und hebt immer wieder eine Flasche Joghurt-Soda an den Mund. Saba erstarrt.
Pasdars
erinnern sie an den Flughafen und die barsche Frage:
Wer ist Mahtab?
, vergiften die letzten Augenblicke mit ihrer Mutter. Sie merkt kaum, dass Reza sie beide an den Händen fasst und anfängt, hinter seinem Ball herzusprinten, durch enge Gässchen davonflitzt, so schnell, dass der Polizist ihnen nicht folgen kann. Im Laufen verspottet er den Mann mit dem Anfeuerungsruf für die iranische Fußballmannschaft, den er bei den Hafezis im Fernsehen gehört hat. »Duu Duuruuu duud duud. IRAN !«
    Irgendwann kriegt ihr noch richtig schlimmen Ärger mit der Polizei
, droht Rezas Mutter dem Trio oft. Sie sagt es zu Saba, weil ihre Mutter irgendwas Illegales gemacht hat und wegen der ausländischen Musik, die Saba mit Reza hört, und zu Ponneh sagt sie es, weil sie bockig ist und zu schön, um unbemerkt zu bleiben. Saba glaubt nicht, dass Reza irgendwas auf diese Warnungen gibt. Er ist zu sehr darauf aus, den Helden zu spielen. Vielleicht hätte sie die beiden doch nicht mitnehmen sollen.
    Bald gelangen sie aus den dunklen Gassen und verwinkelten Sträßchen dieses fremden Teils von Rasht in eine Gegend, die Saba kennt. Abgesehen von ihren Besuchen im Postamt war Saba einmal mit ihrer Mutter und Mahtab in diesem Stadtviertel, um Schuhe zu kaufen. Da waren die Zwillinge acht, und die Pro-Haar-Regierung war noch nicht von der Pro-Kopftuch-Regierung gestürzt worden – den Straßenschreiern, die später die politischen Parteien ihrer Viertklässlerwelt wurden. An jenem Tag bekamen sie beide zwei Paar Schuhe, wobei Sabas etwas höhere Absätze hatten. Ihre Mutter hatte das absichtlich so gedreht, wegen des ungerechten
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