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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Größenunterschieds von einem Zentimeter zwischen den Zwillingen. Saba weiß das, weil sie das verschwörerische Lächeln im Gesicht ihrer Mutter sah, während Mahtab gerade ihre Riemchen einstellte.
    Als die drei am Postamt ankommen, steckt Saba ihren selbst gemachten Stadtplan weg, rückt ihr Kopftuch so zurecht, wie sie das bei erwachsenen Frauen gesehen hat, und läuft direkt zu Fereydun am Schalter, dessen Gesicht ernst wird, als er sie auf sich zuspringen sieht. Reza und Ponneh warten im Hintergrund, dass sie ihren Preis in Empfang nimmt, damit sie anschließend zum Eisladen gehen können, wie Saba es ihnen versprochen hat. Sie lächelt Fereydun hö f lich an. Der wischt sich mit einer behaarten Hand über die wuchtige Stirn und sieht aus seinem Schalterfenster zu ihr herab. »Wieder nichts, kleine Khanom.«
    Sie übergeht das. »Hafezi«, sagt sie, hoffnungsfrohe Augen auf sein blasses Gesicht gerichtet, kleine Finger, die die Schalterkante zwischen ihnen umklammern. »Hafezi aus Cheshmeh.«
    Fereydun beginnt, vor sich hin zu murmeln, während er so tut, als würde er den Stapel Post hinter sich durchsehen. »Nein, nichts für Hafezi. Versteh doch, Mädchen, die Post wird euch nach Cheshmeh gebracht. Du musst nicht extra herkommen.«
    Saba weiß, dass Fereydun ihrer überdrüssig ist. Aber sie hatte heute so ein gutes Gefühl, weil ihre Freunde mitgekommen sind und weil es
genau
einen Monat her ist. Sie dreht sich um und schaut zu Reza und Ponneh hinüber, die sich jetzt in der Nähe eines älteren Mannes herumdrücken, damit keiner merkt, dass sie allein sind.
    Einen Moment lang ist sie wie erstarrt – selbst das aufgesetzte Lächeln in ihrem Gesicht –, und Fereydun räuspert sich mehrmals und blickt auf die Uhr an der Wand. Schließlich kommt Reza angelaufen und nimmt ihre Hand. Er versucht, wie ein Städter zu reden, und sagt: »Danke für Ihre Mühe, werter Herr.« Dann macht er zwei klägliche, angedeutete Verbeugungen und zieht Saba weg.
    Reza will zur Tür, doch Saba reißt sich los. Sie braucht seine Hilfe nicht. Außerdem sind sie in einem Amtsgebäude, zwei Mädchen und ein Junge allein, und schon das kann ihnen Ärger einbringen. Als er wieder nach ihrem Arm greift, stößt sie ihn weg und rennt aus der Post, versucht, die Tränen zu verbergen, die sich hinter ihren Lidern sammeln.
    Ponneh und Reza folgen ihr nach draußen, die Straße hinunter und in eine schmale, gebogene Sackgasse. Saba weiß, dass sie ihr folgen, weil sie ihre gedämpften Stimmen hört, die dann und wann noch leiser werden, wenn sie sich hinter vorgehaltener Hand etwas zuflüstern.
    »Hör auf, dran rumzukratzen!«, sagt Reza zu Ponneh – bestimmt hat sie wieder an der Kruste an ihrem Ellbogen gepult. Er ermahnt sie dauernd, aber sie hört nie auf ihn. »Denk an den Strom von Blut.«
    Saba denkt an den Strom von Blut, ein Farsi-Wortspiel, das Mahtab zusammen mit einem der illustrierten Bücher ihrer Mutter über Allgemeinmedizin benutzte, um Ponneh Angst einzujagen. Jetzt, wo Mahtab nicht mehr da ist, muss Saba das Ungleichgewicht der Lage korrigieren, Ponneh von ihren abergläubischen Vorstellungen befreien und eine neue Verschworene finden. Seit Wochen ist Saba gezwungen, zwei Menschen auf einmal zu sein, Mahtabs Gedanken und Gefühle ebenso zu erfassen wie ihre eigenen, damit ihre Zwillingsschwester nicht ausgelöscht wird. Wenn Mahtab jetzt neben ihr ginge, und genau das stellt Saba sich vor, würde sie alle medizinischen Schrecken heraufbeschwören, die drohen, wenn man Schorf aufkratzt.
    Saba lässt sich im Schneidersitz auf den schmutzigen, ungepflasterten Bürgersteig sinken und lehnt den Kopf an eine Lehmmauer. Sie spürt die Blicke ihrer Freunde auf sich, als sie das Gesicht an die Mauer drückt und damit rechnet, die Essensgerüche aus dem Nachbarhaus zu riechen, oder trockene Erde und Regenwürmer. Doch die Mauer riecht nach Fisch und Schlamm und Meer. Sie weicht zurück, vergräbt das Gesicht in ihrem Ärmel. Das Meer ist weit weg, doch sein Geruch ist immer nah – dieser böse kaspische Geruch. Sie ist nicht bereit, ihn wieder froh zu begrüßen, obwohl sie den Geruch des Meeres früher geliebt hat. Vielleicht wird sie ihn irgendwann wieder lieben, aber jetzt versucht sie, sich gegen das nahende Wasser zu wehren. Ihre Hände heben sich an den Hals, und ihr Atem wird schneller. Sie versucht, das Albtraumbild zu verjagen, Mahtab im Wasser, an dem Tag, als sie das letzte Mal mit ihr sprach, an dem Tag, den die
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