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Wenn der Wetterhahn kräht

Wenn der Wetterhahn kräht

Titel: Wenn der Wetterhahn kräht
Autoren: Charlotte MacLeod
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Kapitel 1
     
     
     
     
     
     
     
    H e, du! Mädchen! Komm sofort von der
Kanone runter!«
    Dr. Helen Marsh Shandy ignorierte das
Gebrüll, auch wenn es aus der Megaphonkehle von Wilbur J. Olson, dem
Polizeichef von Lumpkinton, kam. Sie tastete sich lediglich ein wenig mit ihren
neuen rosa Turnschuhen in Position, bis sie sicher oben auf dem imposanten
Relikt aus dem amerikanischen Bürgerkrieg gegenüber der Seifenfabrik stand,
überprüfte kurz, ob ihr Teleobjektiv fest saß, versicherte sich zweimal, daß
ihr Motiv auch wirklich scharf war, kniff ein Auge zu, schaute durch den Sucher
und drückte auf den Auslöser.
    Olson brüllte wieder. Helen knipste
weiter. Erst als der Polizeichef die Tür seines Streifenwagens aufriß und
Anstalten machte, seine stämmigen Beine unter dem Lenkrad hervorzuziehen und
das Fahrzeug zu verlassen, ließ sie die teure Kamera in ihre Schutzhülle
gleiten und sprang zurück auf den Boden.
    »Tut mir leid, Chief Olson, aber ich
mußte unbedingt die Wetterfahne auf der Seifenfabrik gegen den wunderbaren
Sonnenuntergang fotografieren, bevor der Himmel sich wieder verändert. Diese
Wetterfahne gilt als das Meisterwerk von Praxiteles Lumpkin, wissen Sie.«
    Sie war in der Tat ein Meisterwerk. Die
handgearbeitete Kupfersilhouette, der Alter und Seifendämpfe eine
eindrucksvolle Patina verliehen hatten, stellte einen schlaksigen Mann dar, der
in einem runden Badezuber saß. Eines seiner dünnen Beine war ausgestreckt und
ragte aus dem Zuber heraus. Seine rechte Hand umklammerte eine langstielige
Bürste, mit der er sich gerade den Rücken schrubbte. Die linke Hand, in der
sich ein längliches Objekt befand, das allem Anschein nach ein Stück
Lumpkin-Seife darstellen sollte, hielt er triumphierend in die Höhe.
    Einige Bürger von Lumpkinton verstanden
die Wetterfahne lediglich als einen ungewöhnlich sauberen Witz, andere fanden
sie einfach fantastisch. Chief Olson interessierte sich nicht die Bohne für das
Meisterwerk des umherziehenden Wetterfahnenkünstlers und ebensowenig für Helens
Erklärungen.
    »Ungh.« Er machte sich daran, seine
Beine wieder zurückzuziehen und im Streifenwagen zu verstauen. »Sind Sie nicht
die Frau von Professor Shandy? Ich dachte, Sie arbeiten drüben in der
College-Bibliothek?«
    »Das tue ich auch. Ich mache nur ein
paar Fotos für unser Archiv. Und für eine Broschüre für die Historical Society
von Balaclava County. Wir helfen ihr bei einer Zusammenstellung für das Smithsonian
Institute in Washington. Im Gegensatz zu uns verfügt die Society nicht über die
nötigen Mittel, um die ganzen Daten zusammenzutragen, und ich bin sozusagen die
Verkörperung dieser Mittel. Praxiteles eignet sich hervorragend als
Forschungsobjekt, weil er eine beeindruckende Fülle an Kunstwerken hinterlassen
hat, die noch nie systematisch ausgewertet wurden. Abgesehen von ein paar
Schnappschüssen, die Canute Lumpkins Großmutter mit einer Kodak-Klappkamera
gemacht hat«, fügte Helen fairerweise hinzu. »Aber leider sind die Bilder nicht
sonderlich gut geworden.«
    Polizeichef Olson zeigte nicht das
geringste Interesse an den Schnappschüssen von Canute Lumpkins’ Großmutter.
»Ha! Und dafür werden Sie auch noch bezahlt? Anständige Frauen sind um diese
Zeit längst zu Hause und kochen ihren Ehemännern das Abendessen. Und das
schaffen sie sogar, ohne vorher extra ein Kochbuch zu schreiben.«
    Er verzog seine aufgeworfenen Lippen
kurz zu einem häßlichen kleinen Grinsen, damit Helen auch sah, daß ihm
keineswegs nach Scherzen zumute war, und setzte wieder sein gewohntes finsteres
Gesicht auf. »Wie Sie da oben rumgeturnt sind, habe ich Sie glatt für ein Kind
gehalten.«
    Der Satz klang wie ein Vorwurf, doch
Helen beschloß, den alten Griesgram noch ein wenig mehr zu provozieren, indem
sie seine Bemerkung absichtlich mißverstand.
    »Vielen Dank für das Kompliment, Chief
Olson. Aber nachdem Sie mich jetzt aus der Nähe gesehen haben, wissen Sie es
sicher besser.«
    Die Kuratorin der Sammlung Buggins am
Balaclava Agricultural College, wie ihr vollständiger Titel lautete, war eine
ausnehmend hübsche Frau. Ihre zierliche Figur, die blonden Locken, das rosa
Sweatshirt und die Blue Jeans hätten sogar ein geschulteres Auge als das von
Olson täuschen können. Um ihn noch ein wenig mehr in Rage zu versetzen, fügte
sie hinzu: »Praxiteles war übrigens der Großneffe von Fortitude Lumpkin, der
Druella Buggins geheiratet hat, wie Sie zweifellos wissen.«
    Chief Olson wußte
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